Als Kind freute ich mich immer auf die gelegentlichen Wochenenden, die ich bei meinen Großeltern in Hard verbringen durfte, wenn meine Eltern bei einem ihrer Ausflüge in die nahegelegenen Berge allein sein wollten. Was mir daheim verboten war, wurde durch die entspannten und liberalen, sprich lockeren Erziehungsmethoden meiner Großeltern und der mit meinem Großvater geteilten und bis heute anhaltenden Leidenschaft für Krimis möglich.
Der Grund meiner Freude war eine Fernsehserie und ihr Held, ein etwas korpulenter, rund 1,80 Meter großer, mit der ›Konstitution eines Lastträgers der Pariser Markthallen‹ ausgestatteter Fernsehkommissar, der stets mit Pfeife ausgerüstet und dem Bier auch im Dienst nicht abgeneigt war, und seine Fälle mit geradezu mitfühlender Menschenkenntnis und viel Beharrlichkeit und Intuition löste. Sein Name: Jules Maigret.
Mein Maigret war Brite. Rupert Davies spielte ihn in mehr als 50 Folgen für die BBC. Als ich später Jean Gabin in ›Die Marie vom Hafen‹ sah, war jedoch kein anderer Maigret als der begnadete französische Mime mehr vorstellbar, obwohl er diesen nur dreimal spielte. Maigret jagte in 75 Romanen und 28 Kurzgeschichten mehr als hundert Mörder und wurde unzählige Male verfilmt. Die geschätzte Auflage der Maigret Romane beträgt um die 900 Millionen Exemplare. Simenon schrieb mehr als 400 Bücher, die in 55 Sprachen übersetzt wurden.
Maigret machte seinen Schöpfer Georges Simenon wohl zu einem der erfolgreichsten und reichsten Schriftsteller der Geschichte. Dabei ist Maigret kein trainierter Superheld, kein proletarisch-viriler Schimanski oder britisch-smarter James Bond, kein desillusioniertes einsames ›Private Eye‹ wie Humphrey Bogart in Hammetts oder Chandlers Romanverfilmungen.
Er hat auch nichts gemein mit dem wissenschaftlich-analytischen Sherlock Holmes oder der bieder listigen Spürnase einer Miss Marple. Maigret ist ein braver, in gutbürgerlicher Ehe von seiner Frau umhegter, treuer Beamter des Quai d’Orsay, manchmal geradezu betulich, öfters grantig, einer, den die Täter notorisch unterschätzen, der seine Pappenheimer und das Leben kennt und seine Fälle geradezu nebenbei löst. Denn mehr als das Verbrechen selbst, Erfolg und Verhaftung interessieren den Kommissar die Menschen, ihre Geschichten und Verhältnisse, ihr Motiv und Schicksal zwischen Unentrinnbarkeit und Zufall, Ursachen, Antriebskräften, Leidenschaften.
Im Grau-in-Grau einer Alltagswelt, die die perfekte Kulisse für einen Schwarz-Weiß-Film und das Montmartre der 1940er- und 1950er-Jahre abgeben, spürt er der Komplexität und Dialektik des Verbrechens, der Affinität des Detektivs zum Täter und des Täters zu seinem Opfer nach.
Dabei wird weder alles aufgeklärt noch verklärt; ein unerklärbarer und geheimnisvoller menschlicher Rest bleibt stets und fasziniert den Leser. Die Atmosphäre in Simenons Maigret-Romanen lässt an die Welt und Psychologie Dostojewskis erinnern. François Bondy schrieb über ›Das Wunder Simenon‹: ›Das Zwielicht zwischen Schuld und Unschuld herrscht im Grunde genommen über der ganzen Romanwelt Simenons … Neben der Fremdheit zwischen den Nächsten erscheint das Verbrechen als die noch intimere Fremdheit zwischen dem Einzelnen und seiner Tat. Das Verbrechen ist ihm die hervorragendste menschliche Erfahrung und dementsprechend wird immer häufiger die Beichte als Erzählungsform verwendet … Dem Geschehen selber haftet ein fatalistischer Zug an, und eben deshalb fordert das Verbrechen, so wie Simenon es sieht, nicht in erster Linie Sühne, nicht einmal Gerechtigkeit und erst recht nicht Vergeltung, sondern vor allem Vertiefung des Bewusstseins.‹
Die Erfolgsgeschichte des jungen, überaus ehrgeizigen Journalisten, Autors und Selbstvermarkters, geboren 1903 in ärmlichen Verhältnissen im belgischen Lüttich, beginnt mit erotisch gefärbten Texten für Groschenhefte im Paris der Roaring Twenties. Rasch nimmt er einen Platz in der Pariser Literaturszene ein und publiziert unter verschiedensten Pseudonymen in 14 verschiedenen Magazinen. Wegweisend für seinen klaren, lakonischen und reduzierten Stil wird eine Begegnung mit der Literaturredakteurin Colette: ›Streichen Sie alles Literarische.‹ In seinen besten Zeiten schrieb er achtzig bis hundert Seiten pro Tag. Legendär ist die Anekdote über den Besuch seines Verlegers. Als Simenons Frau ihn empfängt und sagt, er habe keine Zeit, er habe gerade mit einem Roman angefangen, soll der Verleger gesagt haben: ›Gut, ich warte‹.
Es sind die Maigret-Romane, die Simenon Anfang der 1930er-Jahre schlagartig berühmt und reich machen. Ab dem Sommer 1932 widmet er sich seinen ersten ›romans durs‹ (harte Romane), um seine populäre Schöpfung Maigret nach acht Jahren wieder aus dem Ruhestand zurückzuholen. In den Meisterwerken jener Jahre wie ›Bellas Tod‹ oder ›Brief an meinen Richter‹ unterstreicht er eindrücklich, welch virtuoser Alleskönner und Autor er ist.
Simenons Schreibstil ist ohne Schnörkel und intellektuelle Spielereien, zeichnet sich durch eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe aus, die für viele den Vergleich mit Balzac herausforderte. Sein Werk handelt nach eigener Aussage vom ›nackten Menschen‹, dem Menschen, der hinter allen Masken zum Vorschein kommt. Simenon war einer, der das Leben genoss, das Geld mit vollen Händen ausgab und die Frauen umschwärmte. Drei Ehen, unzählige Nächte mit Prostituierten und Affären mit berühmten Frauen wie Josephine Baker säumen seinen Lebensweg. Er liebte schnelle, teure Autos, elegante Boote, Prominenz und Partys, die Welt des Luxus und der Moden. Seine ausgedehnten Reisen, die ihn zu Reportagen und Romanen anregten, führten ihn um die ganze Welt.
Trotz des enthusiastischen Lobs zahlreicher begeisterter Kollegen überwand er nicht den Ruf eines Krimiautors und Vielschreibers. Sein Ruf als Autor blieb umstritten. Simenon reagierte mit Verbitterung und Verachtung für die literarische Welt und sollte sich zeitlebens ärgern, dass die ›Cretins‹ (Simenon) in Stockholm ihm den Literaturnobelpreis nicht verliehen, ein Schicksal, das er mit anderen großen Autoren wie John Updike oder Phillip Roth teilt. Der Kritiker Georg Hansel schreibt: ›Andere Autoren mögen mehr als er wissen über die Gesellschaft. Über den einzelnen Menschen weiß keiner so viel wie er.‹