Seit Sie aus dem Amt der Bundeskanzlerin ausgeschieden sind, verzichten Sie darauf, sich kritisch zu Politik und Gesellschaft zu äußern. Warum das Schweigen?
Schweigen kann man nicht sagen. Aber ich vermeide es nach wie vor, zum tagespolitischen Geschehen Stellung zu nehmen. Ich will niemanden belehren, zumal jetzt andere Verhältnisse herrschen als jene, die wir damals vorfanden.
Dennoch. Geht Ihnen die Politik nicht ab? Können Sie sich vorstellen, jemals in die Politik zurückzukehren, beispielsweise als Bundespräsidentin?
Dezidiert, nein. Ich habe nie einer politischen Partei angehört. Ich war Juristin mit Herzblut und dann kam eben diese für mich damals völlig überraschende Frage des Bundespräsidenten, die Kanzlerschaft betreffend. Österreich war in einer schwierigen Situation, das war letztlich mein Motiv, ja zu sagen.
Sind Sie gleichsam aus allen Wolken gefallen als das Angebot kam?
Ja, es war für mich ein Sprung ins kalte Wasser. Ich habe auch kurz überlegt, ob ich mir das überhaupt zutrauen oder zumuten kann. Als der Bundespräsident mich nach der Ibiza-Geschichte zu sich gerufen hat, habe ich gedacht, vielleicht meint der Bundespräsident das Justizressort? Ich war eben sehr lange in der Justiz tätig, in allen Sparten und dort auch ein Jahr im Justizministerium, das war sozusagen meine Welt.
Haben Sie dem Bundespräsidenten gleich zugesagt?
Ich habe um kurze Bedenkzeit gebeten. Nach einer überraschenderweise gut durchschlafenen Nacht habe ich mir gedacht: ›Österreich ist in einer misslichen Lage.‹ Wenn der Bundespräsident dieses Vertrauen in mich hat und vor allem: Wann wird wieder eine Frau gefragt werden? Und so habe ich zugesagt.
Wie sehen die Zeit Ihrer Kanzlerschaft heute?
Es war eine ganz außergewöhnliche Zeit, eine Ausnahmesituation, das erste Mal in der Zweiten Republik, dass der Herr Bundespräsident sein Verfassungsrecht nutzte, ohne Vorschlag der Parlamentsparteien, eine Regierung und eine – wie ich betone – Bundeskanzlerin zu ernennen. Mir war damals wichtig, die Hälfte der Regierungsmitglieder mit Frauen zu besetzen. Und es war mit nur zwölf Mitgliedern eine sehr schlanke Bundesregierung. Unsere Regierung ist relativ gut angekommen, und es ist uns gelungen, wieder Ruhe ins Land zu bringen. Es waren ja alle Regierungsmitglieder keine Parteipolitiker, sondern in hohen Funktionen tätig, Verwaltungsgerichtshofpräsident, Sektionschefinnen, kurzum Fachleute.
Die Menschen wünschen sich ja mehr Sachpolitik und weniger Parteipolitik. Was spricht gegen Experten-Regierungen?
Die gute Nachrede macht uns alle sehr dankbar. Aber Experten-Regierungen haben sich nie lange gehalten. Man braucht halt schon auch Politikerinnen und Politiker. Denn das Parlament ist politisch besetzt. Man muss ja eine Regierungsvorlage auch im Parlament durchbringen. Daher haben wir uns mit Gesetzesentwürfen oder mit Reformvorschlägen zurückgehalten. Was gut für die Stabilisierung politischer Verhältnisse ist, taugt wenig für Reformen und Veränderung. Das soll aber bitte nicht ausschließen, dass Politiker auch etwas von der Sache verstehen sollen.
Wie hat sich Ihr Leben verändert, als Sie in die Politik gegangen sind? Weniger Zeit?
Es war kaum Freizeit, aber das wusste ich. Ich wusste auch, dass es sozusagen eine Übergangsregierung ist, die nur bis zur Angelobung der nächsten Regierung nach einer Wahl Bestand hat, und das war ein überschaubarer Teil meines Lebens. Aber ich hatte wirklich so gut wie kein Wochenende. Ich beneide keine Politikerin, keinen Politiker, es ist ein sehr anspannender Beruf. Man ist von früh bis abends beschäftigt.
Sie haben natürlich auch mit vielen interessanten Menschen gesprochen, gab es eine besondere, ja faszinierende Persönlichkeit darunter?
Also fasziniert hat mich Angela Merkel. Sie hat mir gleich beim ersten Europäischen Rat ein Vier-Augen-Gespräch angeboten, das unglaublich wertschätzend war.
Der gegenwärtige Bundespräsident hat unsere Verfassung als ›elegant‹ und ›schön‹ bezeichnet. Das ist gemeinhin ein Kompliment für eine Frau. Aber auch eines für die Verfassung?
Sie ist schon über 100 Jahre alt, auch immer wieder reformiert, unter anderem durch den Beitritt zur Europäischen Union. Ihre Gründungsväter Hans Kelsen und seine Mitstreiter haben sie mit sehr klarer Sprache und Regeln geschaffen. So ist sie auch für Laien verständlich lesbar, das ist heute bei Gesetzen ja nicht selbstverständlich. Entscheidend ist, dass mit der Verfassung erstmals ein Verfassungsgericht geschaffen wurde, der österreichische Verfassungsgerichtshof, dessen Präsidentin ich sein durfte. Es ist dies ein Gericht, das als einziges die Möglichkeit hat, Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen. Das war ganz neu damals, ja revolutionär und hat viel Nachahmung – oft erst nach dem Zweiten Weltkrieg – auf der ganzen Welt gefunden.
Darf ich vielleicht Ihren familiären Hintergrund ansprechen? Ein Umfeld von Akademikern und Juristen? Was wollten Sie werden?
In meiner Familie gab es kaum Akademiker. Dennoch komme ich aus einer bürgerlichen Familie, habe ein humanistisches Gymnasium besucht, Latein und Griechisch gelernt. Damals waren die Europäische Union und auch Fremdsprachen noch etwas fern.
Und das Juristische war damals schon Ihr Wunschtraum?
Nein, ich hätte gern Kunst oder Architektur oder etwas in dieser Richtung studiert. Aber es gab damals weder Frauen als Direktorin eines Museums noch als Professorinnen an der Akademie. Ich habe dann während des Studiums die Juristerei zu schätzen gelernt, hatte auch das Glück, dass ich in vier Jahren, also in der Mindeststudienzeit, fertig werden konnte und dass mich der Richter-Beruf und vor allem das Strafrecht sehr erfüllt haben.
Darf ich da ganz banal fragen? Lesen Sie gerne Krimis?
Nein, Krimis sind nicht meine Leidenschaft. Mich hat die Realität, wie sie sich im Strafrecht spiegelt, wesentlich mehr fasziniert. Auch weil im Strafrecht das sogenannte ›Prinzip der materiellen Wahrheitsforschung‹ gilt. Das heißt, man muss von sich aus versuchen, der Wahrheit nahezukommen, auch wenn dies eine ideale Vorstellung ist. Im Zivilrecht kann man das, was zwischen den Parteien außer Streit gestellt wird, nicht hinterfragen. Die Palette des gesamten Strafrechts, die negative Seite des Lebens, zu erleben und dies in unterschiedlichen Positionen, war herausfordernd und spannend.
Dies hat etwas Detektives.
Ja, das hat mich immer sehr interessiert. Ich war ja auch relativ lange in erster Instanz, also an der Front sozusagen tätig. Mein Weg führte mich dann über die Oberstaatsanwaltschaft bis zur Generalanwältin.
Sie hatten mit schweren Verbrechen zu tun, von Mord bis zur Vergewaltigung. Was verändert das in einem? Bekommt man da eine harte Haut?
Natürlich lässt einen das nicht kalt. Auf der anderen Seite muss man eine gewisse Barriere zwischen sich und dem Geschehen aufbauen, sonst kann man den Beruf nicht ausüben, wobei man die Empathie niemals verlieren darf. Ich hatte Gott sei Dank nicht nur schwere Fälle. Ich habe ja am damaligen Straf-Bezirksgericht Wien begonnen, wo relativ harmlose Fälle behandelt wurden.
Männer werden eher straffällig als Frauen. Stimmt das?
Ja, das stimmt.
Das klingt ja fast nach einer ›biologischen Determination‹.
In einer Arbeit vor vielen Jahren habe ich das einmal untersucht und da hat sich wenig geändert. Damals waren, glaube ich, 17 Prozent Straftäterinnen, also weiblich. Ich glaube, dass Männer doch per se eher gewaltbereiter sind als Frauen. Frauen haben auch andere ›Delikte-Spezialitäten‹.
Haben Sie das Gefühl gehabt, dass es für Sie schwerer war als für Männer in Ihrem Beruf? Wurden Sie gleich akzeptiert?
Als Frau wurde ich in einer Männer-Gesellschaft anfangs besonders ›beäugt‹, aber nach einiger Zeit, eben wenn man auch eine besondere Leistung erbringt, hieß es: ›Na, Frauen können doch auch arbeiten.‹ Wo ich hinkam, war ich oft die erste Frau und ich wollte beweisen, dass Frauen in der Lage sind, genauso qualifiziert zu arbeiten.
Sie sind ja ein Beispiel für die Möglichkeiten, die auch eine Frau haben kann, bis zur Bundeskanzlerin …
Das war auch großes Glück.
Nur, wie sehen Sie die Diskussion in Quoten? Würden Sie Quoten für Jobs begrüßen?
Anfänglich war ich keine Freundin der Quoten, ich habe immer gedacht, Frauen haben das nicht notwendig. Sie beweisen durch ihre Tätigkeit, dass sie qualifiziert sind. Allerdings habe ich erlebt, dass Männer bei gleicher Qualifikation viel rascher als Frauen Karriere machen können. So wenig ich die Vorstellung von einer ›Quotenfrau‹ mag, so sehr kann ich mir heute in gewissen Bereichen Quoten vorstellen.
Blicken Sie optimistisch in die Zukunft oder eher pessimistisch?
Ich war immer Optimistin. Ich halte mich da an Karl Popper, der sinngemäß sagt, es ist Pflicht, Optimist zu sein. Die Welt wird sich natürlich weiterdrehen und die Jugend, wenn ich sie so sehe, mit ihrer Empathie und ihren Enthusiasmus lässt mich hoffen.
Sie lieben die Kunst, werden auf Ausstellungen, Vernissagen und im Theater gesehen und lesen ja auch sehr gerne. Gibt es einen Autor oder ein Buch, dass Sie sehr lieben?
Spontan? Ich habe sehr gerne immer wieder auch lateinische Gedichte von Catull gelesen, sie sind von berührender Schönheit.
Was würden Sie als historisch interessierter Mensch gerne über sich in den Geschichtsbüchern lesen?
Drüber denke ich überhaupt nicht nach, ich bin auch kein eitler Mensch. Aber dass Österreich eine Bundeskanzlerin hatte und ich die erste sein durfte, das fand ich bewegend.
Würden Sie sich da in gewisser Weise auch als Beispiel sehen, als Vorbild auch in Bezug auf die Möglichkeit, die Frauen in unserer Gesellschaft haben können und vielleicht auch als Bahnbrecher ein bisschen in die Zukunft?
Das glaube ich schon, weil mich bis heute junge Frauen auf der Straße ansprechen, mich noch erkennen und sagen: ›So schön, dass Sie das gemacht haben‹ oder kürzlich ein junger Vater mit seiner kleinen, fünfjährigen Tochter: ›Da siehst du, das war die erste Bundeskanzlerin, das kannst du auch einmal werden!‹ Und das hab' ich einfach schön gefunden. Ich bin auch in Schulen, auch an meine eigenen Schule gegangen, aber auch in andere, und unterrichte auf einer Privatuniversität öffentliches Recht. Mir ist es wichtig, der Jugend eine Perspektive des demokratisch liberalen Rechtsstaates zu geben. Ein so wichtiger Wert, den man nicht hoch genug schätzen kann und den man zum Teil heute zu selbstverständlich nimmt. Das ist aber nicht selbstverständlich. Es ist ein fragiles Gebilde und immer wieder gefährdet.
Und dafür lohnt es sich zu kämpfen.
Ja, genau und wachsam zu bleiben.