Widerständige Figuren

Dr. Gerald A. Matt / Felix Mitterer

Widerständige Figuren

Dr. Gerald A. Matt / Felix Mitterer

Aufklärung hat ja immer auch mit Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun. Fühlst du dich als Aufklärer?

Schwierig. Nein, da würd’ ich mir ja hochmütig vorkommen, ich habe, so gut ich konnte, immer vermieden, den Zeigefinger zu erheben. Trotzdem: Aufklärung, ja! Ich würde aber zuerst das Wort Bildung wählen — Bildung, Bildung, ich komme ja aus dem Landarbeitermilieu, wo Bildung nicht selbstverständlich war. Bildung ist unerlässlich, um Aufklärung zu ermöglichen. Ich war als Kind hungrig nach Wissen und habe gesucht, was ich gekriegt habe, was nicht viel war, die Schundheftl von den Knechten und die Heimatromane meiner Adoptivmutter, die Landarbeiterin war, die sie mit großem Genuss gelesen hat, wissend, dass alles da drin erstunken und erlogen ist. Aber dann, Gott sei Dank: Fremde, heute Gäste genannt, die mir die erste gute Literatur gebracht haben, und ich das in mich hineingefressen hab’, um etwas zu erfahren von der Welt, etwas zu erfahren von uns, von mir selber.

Habermas spricht in Bezug auf die Aufklärung von einem unvollendeten Projekt. Da stellt sich gerade heute die Frage: Ist Aufklärung mit Radikalität durchzusetzen?

Ich glaube, es bedarf mehr der Nachsicht. Ich hab’ gerade unter großen Qualen ein Stück über den Martin Luther beendet. Bei ihm war ja der unmittelbare Anlass diese Ablassverkäufe, wo man den armen Leuten oft für den letzten Groschen ihre Seligkeit verkauft hat. Das hat ihn so wütend gemacht. Er war aber nur einer von vielen, die nicht mehr ertragen haben, in welchem Zustand die Kirche und die Gesellschaft waren. Da fängt er an zu predigen — und erzeugt einen Aufruhr, den er nicht wollte. Als in Wittenberg seine Anhänger die Kirchen stürmen, hat er zu ihnen gesagt: ›Ich bitte euch, habt Geduld.‹ Nicht so schnell, nicht so schnell, wir dürfen nicht alle so vor den Kopf stoßen, hat er auch gesagt.

Zur Aufklärung gehört das Prinzip der universalen Kritik, das aber zunehmend einem Prinzip des universalen Respekts weicht. Lähmt ›Political Correctness‹ das intellektuelle Selbstbewusstsein des Aufklärerischen, ist sie ein Hemmschuh für die Kunst?

Na ja, darauf kann man sich ja überhaupt nicht einlassen, auf diese gewünschte Correctness. Wie soll ich das denn tun, meinen Figuren das aufzuoktroyieren, die vollkommen anders sind, die muss ich ja zeigen, wie sie sind und wie sie handeln.

Wenn man sich deine Biografie ansieht, könnte man von einer harten und schweren Kindheit sprechen. Dennoch eine glückliche Kindheit?

Also ich möchte keinen Moment missen. Die Schläge der Mutter könnte ich gut missen, die hätt’ ich wohl nicht gebraucht, aber es hat so unglaublich viele Momente auch der Geborgenheit gegeben; was jetzt die sogenannte Armut betrifft, so war’s bei mir nicht anders als bei Hunderttausend anderen auch, ich habe ja überhaupt nicht gewusst, dass ich arm bin, es war was zum Essen da, es war was zum Anziehen da. Mit 14, 15, ja, da hatte mir die Mutter irgendwie von der Caritas ein Sakko gebracht, das mir viel zu groß war, da hab’ ich mich so geschämt … aber grundsätzlich war die Armut völlig wurscht. Da war so viel Schönes, im Sommer auf der Alm, dann natürlich das Lesen zu entdecken, von den fremden Gästen, die ersten guten Bücher, dann draufzukommen in der Schule, dass mir das Schreiben leichtfällt, dass ich süchtig bin nach dem Schreiben, also will ich nichts missen von dem, was war, aus dem allem heraus schreibe ich ja auch.

Du hast direkt über die Kindheit und Jugend nicht geschrieben. Warum?

Also erstens ist es so, dass ich nicht in der Lage war, über meine Kindheit und Jugend zu schreiben, wahrscheinlich lange Zeit, ohne in Wehleidigkeit zu verfallen. Mein Kollege Franz Innerhofer, ›Schöne Tage‹, Salzburg, der hat das geschafft, ganz ein ähnliches Schicksal wie ich, der war stark genug, begabt genug, um über sein Dasein als kleiner Knecht zu schreiben, das konnte ich nicht. Ich hab’ das erst für mich bewältigen müssen, für mich ganz persönlich, dann erst konnte ich überhaupt schreiben, und dann sind diese Erinnerungen natürlich schon in meine Arbeit eingeflossen, in ›Mein Ungeheuer‹, aber das beste Beispiel ist mein ›Kein Platz für Idioten‹, ein Theaterstück, wo sich ein alter Mann um einen behinderten Buben kümmert, der da ausgestoßen ist. Und erst nachdem ich selber in dem Stück gespielt hab’, bin ich draufgekommen, dass ich derselbe bin, der Bua da, dass ich mich selber spiel’, ich hab’ mich als Kind manchmal wirklich sehr behindert gefühlt. Diese Aufführungen waren die beste Psychotherapie für mich.

War Schriftsteller damals schon ein Traum?

Die Bücher, ja, jedenfalls kam dann Gott sei Dank mein Lehrer, mein Volksschullehrer, der gesagt hat, als ich dreizehn war: ›Felix, du hast zwei Möglichkeiten: Entweder wirst du Pfarrer oder Lehrer in dieser Position.‹ Nachdem ich in ein gleichaltriges Mädchen verliebt war da an der Schule, an der Volksschule, das das aber nie erfahren hat natürlich, hab’ ich g’sagt, ›bitte Lehrer‹. Da bin ich halt in ein Heim gekommen, wo die ganze Weltliteratur war, da hab’ ich alles gelesen und in der Schule nix gelernt, und da bin ich dann irgendwann rausgeflogen und musste einen Brotjob machen. Für mich war das der absolute Horror, allein das Wort ›Zöllner‹ …

Hast du da schon geschrieben?

Ja, nebenbei hab’ ich fleißig geschrieben und bin jeden Tag um elf mit’m Radl zum Postkasten gefahren von meiner Wohngemeinschaft und hab’ im Postkastl nachgeschaut, was der Verlag schreibt — also hab’ ich halt elf Jahre gewartet, und brav geschrieben. Die Kollegen waren unfassbar tolerant — ich bin jeden Tag zu spät gekommen und habe schulterlange Haare gehabt. Dann haben sie gemerkt, ich schreib’, und ›Schreiber, Künstler, des muss an Spinner sein. Passt, alles in Ordnung bei dir.‹

Wann hast du das erste Mal das Gefühl gehabt, ›jetzt habe ich Erfolg‹?

Wie ich aus der Schule geflogen bin, hab’ ich mich furchtbar geschämt vor meinem Volksschullehrer, der mich so gefördert hat, und gegenüber meinen Adoptiveltern, weil meine Mutter in Fremdenpensionen putzen gegangen ist, damit sie das Heim zahlen kann. Ich hab’ mich entsetzlich schlecht gefühlt und nur gedacht, ›aber wart’ nur, eines Tages werd’ i dann berühmt, und dann bist nimmer bös auf mi‹. Und da hab’ ich wirklich fleißig beim Zoll geschrieben. 1977 war dann das erste Theaterstück, das erste Buch ›Superhenne Hanna‹, der erste Fernsehfilm für den ORF — da wagte ich es, vom Zoll wegzugehen.

Da hast du aber schon davon leben können, ab dem Zeitpunkt?

Na ja, nicht wirklich, ich hab’ in Wahrheit vom Spielen gelebt, hab’ den Egon Schiele gespielt und Angebote bekommen als Schauspieler. Ich hab’ mir gedacht, ich muss mich doch entscheiden: Was will ich — spielen oder schreiben? Und ich wollte unbedingt schreiben, und ich hab’ beim Spielen auch gemerkt, dass ich ein Laiendarsteller bin.

In vielen deiner Stücke und Bücher spielen Außenseiter eine Rolle. Ob das der Jägerstätter ist, der den Kriegsdienst verweigert und dafür in der NS-Zeit hingerichtet wird, der ›gute Außenseiter‹, oder die Walderbuben, die Wilderer, also eher die böse Seite. Sympathie?

Ja, man muss einfach sagen, dass ich mich selber schon eher als kleiner Spinner und Außenseiter gefühlt hab’ als Kind, und ich hab’ sogenannte Außenseiter immer spannender gefunden als den sogenannten normalen Menschen, der halt mitschwimmt. Das hat mich immer fasziniert und interessiert: widerständige Figuren.

Du hast ein enormes Schreibpensum. Es gibt Jahre, da hast du drei, vier, fünf Stücke oder Drehbücher veröffentlicht — hast du nie so etwas wie eine Schreibhemmung?

Nein — Schreibhemmung deshalb nicht, weil ich nehm’ mir die Geschichten ja meistens aus der Wirklichkeit. Aber was ich habe, hat ja jeder Autor: die erste weiße Seite. Irgendwann beginnen die Figuren zu leben, zu tun, was sie wollen, und nicht was ich will, dann denk’ ich mir, ›Na schau an! Was sagt er denn jetzt, was macht er denn jetzt?‹, und dann ist es natürlich großartig,

Du recherchierst genau, du eignest dir die Geschichte an …

Ich tu’ mir da schon was an. Manchmal wünsche ich mir sehr, dass ich ganz frei bin und der Fantasie folge, weil ich immer wieder eine furchtbare Verantwortung auf mich lade. Also Jägerstätter, der oberösterreichische Bauer, der geköpft wurde, weil er den Wehrdienst verweigert hat — da gab es immer noch drei Schwestern, die leben, und noch seine Ehefrau, die Franziska, das heißt, ich schreibe etwas in dem Bewusstsein, dass ich ihnen das vorlegen muss. Das ist ziemlich arg, weil das, was ich mache, wird letztlich Theaterkunst, also nicht Dokumentation. Das heißt, ich muss auch erfinden dürfen, und trotzdem muss es so sein, dass sie einverstanden sind.

Zur ›Piefke-Saga‹: du hast ja sehr viel im Dialekt geschrieben, und ich glaube, in der ›Piefke-Saga‹ geht es auch um diese Kommunikationsunfähigkeit zwischen Dialekt und Hochdeutsch.

Das meiste, was ich geschrieben habe in meinem Leben, ist in der Umgangssprache geschrieben, und in Tirol auf Tirolerisch. Bei der ›Piefke-Saga‹ war der große Vorteil, dass es um Sprache geht. Der Witz war ja, dass man sich gegenseitig einfach nicht verstanden hat. Da verliebt sich der Berliner Junge in die Bauerntochter und trifft sie dann weinend wieder im Winter mit dem Moped am Weg und sagt, ›Was ist los mit dir?‹, und sie sagt, ›I bin in der Hoffnung‹. Und er hat keine Ahnung, was das heißen soll. ›Was für Hoffnung?‹ — ›Ja, ich bin schwanger.‹ — ›Ja, warum gibst du mir nicht ’ne Info?‹ Versteht sie wieder nicht. Und so weiter.

Die ›Piefke-Saga‹ ist ja eine Komödie und Kritik am Massentourismus. Wenn du dir das heute jetzt anschaust, fühlst du dich da fast als Prophet?

Nein. Auch die Branche wusste, was kommen wird. Damals waren viele aus dem Tourismus auf mich beleidigt. Manche von den Alten haben gesagt, wir haben seit dem Krieg nichts als geschuftet und geschuftet und Schulden gemacht und aufgebaut, damit aus dem Land wieder was wird, damit wir uns ernähren können, das arme Tirol, und dann kommt der Mitterer und macht sich lustig über uns. Aber deren Kinder haben gesagt, ›hallo, der hat doch recht!‹.

Du hast ja selbst von dir gesagt: ›Ich bin eigentlich ein Heimatdichter, ein Volksautor.‹

Na, na, ich hab’ nie gesagt, also was ich da mache, mit Heimat, ist eine lebenslange Spurensuche. Und die Rückkehr zu den Stätten meiner Kindheit. Das ist die Heimat, natürlich.

Letzte Frage, ganz kurze Antwort, weil wir eigentlich schon am Ende sind: War und ist Schriftsteller ein Traumberuf für dich?

Ja, natürlich. Immer noch. Ich hab’ ein großes Glück gehabt, weil ein Lyriker, so gut er ist, wird nie davon leben können, aber ein Dramatiker, wenn seine Stücke gespielt werden, ein Autor, dessen Drehbücher verfilmt werden, der wird davon leben können. Dennoch: Lyrik ist das Höchste überhaupt.

Vielen Dank für das Gespräch!