›Um meine Welt und meine Identität zu verteidigen‹

Dr. Gerald A. Matt / Tanja Maljartschuk

›Um meine Welt und meine Identität zu verteidigen‹

Dr. Gerald A. Matt / Tanja Maljartschuk

Sie haben, nachdem Sie studiert haben, als Investigativ-Journalistin gearbeitet, für die ›Deutsche Welle‹ und für die ›Zeit‹. Was hat Sie anfangs zum Journalismus gebracht und war das gefährlich?

Ich habe Philologie studiert, die Sprache war immer schon mein wichtigstes Werkzeug. Ich habe auch sehr früh angefangen, zu schreiben. Aber zu dieser Zeit war es in der Ukraine mit Literatur nicht möglich, zu überleben. So ging ich in den Journalismus. Aber weil das Schriftstellerische und das Journalistische sich nicht wirklich vertragen, passierten mir als Journalistin auch peinliche Dinge. Weil für mich die Schönheit einer Geschichte und der Sprache wichtiger ist als die Wirklichkeit. Und ich bin für den Journalismus vielleicht auch zu emotional, habe eine zu dünne Haut. Es hat auch gefährliche Situationen gegeben, in die ich dadurch geraten bin. Aber wirklich gefährlich war Journalismus in der Ukraine in den Zeiten von Kutschma*. In dieser Zeit sind auch mehrere Journalisten getötet worden, wie Alexandrow oder Gongadse. Ich selbst kam erst nach der Revolution 2014 zum Journalismus. Auch wenn das System noch korrupt und vielfach kriminell war, bekamen da die freien Journalisten in der Ukraine sogar ein bisschen Macht und die Politiker auch ein wenig Angst.

Hat der Journalismus Ihr Schreiben sehr beeinflusst? In Ihrem aktuellen Buch findet sich ja ein starker Bezug zur Realität der Ukraine seit 2014, und in den Essays geht es sehr um politische und soziale Zusammenhänge.

Es sind eher literarische Kommentare zum Zeitgeschehen. Aber ja, man konnte sich leider nicht verstecken vor der Realität. In einem Essay von George Orwell geht es darum, dass ein Schriftsteller sich in schlechten Zeiten im Bauch eines Wals verstecken und abwarten soll, bis die schlimmen Zeiten vorbei sind. Um dann diese Vergangenheit objektiv zu beschreiben. Aber ich habe diesen Wal nirgendwo vorgefunden. Ich würde gerne weiterhin surrealistische Geschichten über seltsame Außenseiter und Verlierer schreiben, was ich, wie ich glaube, bis dahin auch erfolgreich gemacht habe. Aber die Realität holt einen ein. Seit neun Jahren herrscht Krieg in meinem Land.

Sie sind im Jahr 2011 aus der Ukraine emigriert, warum?

Der Liebe wegen, mein Mann ist Österreicher. Obwohl die politische Situation sicher ein Grund war, warum es mir so leicht gefallen ist. Es war die Zeit, wo Janukowitsch* an die Macht gekommen ist. Ich erinnere mich sehr gut an den Tag, an dem er die Wahl gewonnen hat. Ich habe geweint. Ich dachte mir: Es ist nicht möglich, dass dieses Land, in dem ich geboren wurde, einen Kriminellen zum Präsidenten wählt. Und irgendetwas ist da in mir gebrochen, ich habe für einen Augenblick die Hoffnung verloren. 2013, als die Proteste in Kyjiw ausgebrochen sind, kehrte meine Hoffnung wieder zurück und bleibt bis heute. Die Ukraine ist für Autoritarismus nicht geeignet.

Das aktuellste Buch, Ihr Essayband, trägt den Titel ›Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus‹, mit der Widmung: ›Für mein tapferes Land.‹ Inwieweit hat der Krieg Ihr Leben und Ihr Schreiben verändert?

Ich habe aufgehört, zu schreiben. Also vollkommen aufgehört. Ich mache jetzt alles Mögliche. Aber nicht das Eigentliche.

Aber Sie nutzen Ihre Position als Schriftstellerin und Ihre Reputation, um für Ihr Land einzutreten und sprechen.

Ja. Anders ist es nicht möglich. Das ist die Pflicht meinen ukrainischen Kollegen und Kolleginnen gegenüber, die auch ihre Romane schreiben könnten, aber an die Front gegangen sind, um meine Welt und meine Identität zu verteidigen. Ich sehe das nur so.

Könnte man den Titel des Buches nicht auch als fatalistisch empfinden?

In der Ukraine sagt man: Man atmet nach dem Sieg aus. Es geht auch darum, dass die Ukrainer immer wieder diese großen Tragödien erleben mussten. Und dass nie die Zeit war, um sich zu erholen.

Am Anfang Ihres jüngsten Buches steht ›Die Heimat ist dort, wo deine Toten liegen.‹ Und das modifizieren Sie dann und sagen: ›Die Heimat ist dort, woher deine Traumata stammen.‹ Inwieweit hat Ihr Schreiben mit der Verarbeitung von Traumata zu tun? Wie autobiografisch ist Ihre Arbeit?

Das Schreiben war immer schon ein Versteck für mich. Auch eine Möglichkeit, irgendwelche Dinge auszudrücken, die ich vielleicht selbst noch nicht wirklich wahrgenommen habe. Ich plaudere sehr schnell und viel, aber tatsächlich denke ich nur, indem ich schreibe und wenn ich schreibe. Ich muss die Sätze sehen, muss die Wörter sehen. Das ist Denken für mich. Und autobiografisch ist alles. Man schreibt immer nur aus der eigenen Perspektive und aus der eigenen Erfahrung heraus. Die Literatur ist ein ewiger Versuch, aus dem eigenen Kopf und der eigenen Seele in die Welt der anderen zu springen, der aber immer scheitert.

Sie haben auch einen Text ›Mein Russland, mein Russland, wie liebe ich dich.‹ Das hört sich heute eigenartig an.

Das stimmt. Diesen Text habe ich 2014 geschrieben. Das war mein erster auf Deutsch geschriebener Text, in einer Nacht für die FAZ geschrieben, nachdem die Krim okkupiert wurde. In dem Text geht es darum, dass Russland unseren Hass schluckt und dadurch nur größer wird. Und deshalb kam ich am Ende zu diesem Schluss, dass ich lieber liebe, um Russland nicht größer zu machen. Ich dachte damals tatsächlich, dass wir irgendwann einfach weiterleben können. Und dass Russland uns in Ruhe lässt. Das war eine große Täuschung. Jetzt ist es für mich schmerzhaft, allein den Titel zu lesen.

Wenn Sie an Ihre ersten Bücher zurückdenken: Gibt es Brüche, Zäsuren zwischen den frühen Büchern und Ihrem aktuellsten Buch? Was hat sich verändert?

Vielleicht bin ich etwas ernster geworden. Ich habe sehr früh angefangen, zu schreiben, aus purer Lust am Schreiben. Und auch aus einer großen Einsamkeit heraus. Andererseits hatte ich mit 17, 18 Jahren noch sehr wenig Erfahrung in dieser Welt. Also habe ich mir einfach Geschichten ausgedacht, alles Mögliche und gerne Surrealistisches. Wichtig waren mir immer eine gewisse Einfachheit der Geschichte und Humor. Ich habe im Text, so wie im Leben, immer gerne ein bisschen den Clown gespielt. Humor und Tränen. Komik und Tragödie. Dieser Mix begleitet mich: In einer Hand habe ich etwas zum Lachen, und in der anderen etwas zum Weinen. Durch die momentane politische Situation bin ich aber erwachsener geworden, ich möchte den Clown nicht mehr spielen. Und die Welt besteht auch nicht nur aus Lachen und Weinen.

Sie haben auch ein Kinderbuch geschrieben, ›Mox Nox‹, einen dystopischen Kinder­roman. Was hat Sie an einem Kinderbuch gereizt?

Dieses Buch habe ich geschrieben, weil ich einerseits mein inneres Kind pflegen wollte. Ich glaube, dass ein Teil von mir immer noch zwölf Jahre alt geblieben ist. Und andererseits wollte ich meine Nichte zum Lesen anregen, weil sie eben nie liest. Diesen Text habe ich auch für sie geschrieben, möglichst düster. Es geht um das Ende der Welt, zu einer Zeit, in der Menschen nicht mehr existieren. Flughunde bewohnen eine Stadt, die nur mehr eine Ruine ist. Und diese Flughunde leben in den Ruinen und wissen nicht, wer ihre Stadt ursprünglich gebaut hat, und warum sie zerstört worden ist. Nur die junge Flughündin Teresa versucht, die Wahrheit herauszufinden. Und so beginnt die Geschichte. Letztlich ist es aber eher ein Märchen für Erwachsene. Und es ist eigentlich auch symbolisch und prophetisch: Das Buch ist 2018 erschienen. Die Illustratorin, die die Bilder gestaltet hat, ist später aus Kyjiw geflüchtet. Sie hat diese Apokalypse wirklich erlebt, im März und April. Von ihrem Fenster aus hat sie Panzer und Straßenkämpfe miterlebt. Das Buch war, als hätten wir die Zukunft vorausgeahnt.

Wollen Sie vielleicht etwas darüber erzählen, aus welcher Familie Sie kommen? Haben Literatur und Kunst in Ihrer Familie eine Rolle gespielt?

Nein, gar keine. Ich bin die zweite Generation, die lesen und schreiben kann. Meine Eltern waren einfache Arbeiter. Mein Vater ist zwar ein Ingenieur, der Schiffe baut. Aber Literatur und Kunst haben bei uns keine Rolle gespielt.

In Ihrem Roman ›Blauwal der Erinnerung‹ geht es ja um das Thema Emigration – aber eigentlich um einen ukrainischen Volkshelden, nämlich um Wjatscheslaw Lypynskyj, der nach Wien emigriert ist. Was hat Sie an ihm so interessiert?

Wir befinden uns jetzt ja im Hochhaus in der Herrengasse, und gleich gegenüber ist das Café Central. Dort saßen all die ukrainischen Politiker, die in den 1920er Jahren hier im Exil waren. Und dort haben sie über die Zukunft der Ukraine gesprochen, weil damals, vor 100 Jahren, alle Pläne gescheitert waren und sie das Land vor den Bolschewiken nicht verteidigen konnten. Es gab wirklich Zeiten, in denen im Café Central und im Café Herrenhof gleich gegenüber nur Ukrainisch gesprochen wurde. Sie stritten darüber, wie sie dann zurückkehren und eine neue Ukraine bauen würden, wie diese Ukraine dann aussehen sollte. Das ist nicht passiert. Sie sind alle im Exil gestorben, um nicht zu sagen: verreckt, und die Idee einer europäischen demokratischen Ukraine mit ihnen gemeinsam.

Lypynskyj steht im Grunde auch für eine freie, europäische Ukraine?

Ja. Er war das ganze Leben mit der Idee beschäftigt, einen ukrainischen Staat zwischen Polen und Russland kreieren zu müssen – und dabei zu sein. Und das als gebürtiger Pole! Er war einer der Begründer der Idee einer politischen Nation und des territorialen Patriotismus, was mir auch sehr nah steht. Er war ein Visionär, Philosoph und ein großartiger, wenn auch schwieriger Mensch. Auf ihn bin ich erst gestoßen, nachdem ich nach Österreich gekommen bin. Früher interessierten mich solche Geschichte wenig. Lypynskyj lebte in Reichenau, danach züchtete er Hühner in der Nähe von Graz. Gestorben ist er in einer Klinik bei Wien, wo ein paar Jahre zuvor Franz Kafka behandelt worden war.

Was wünschen Sie sich für die Ukraine?

Dass der Krieg zu Ende ist, und dass die Ukraine das übersteht. Und dass alle Kriegsverbrecher ihr Gefängnis finden.

Danke für das Gespräch!

Anmerkungen

* Leonid Danylowytsch Kutschma war von Oktober 1992 bis September 1993 Minister­präsident und von Juli 1994 bis Januar 2005 Präsident der Ukraine.

* Wiktor Fedorowytsch Janukowytsch war zwischen 2002 und 2005 sowie 2006 und 2007 Ministerpräsident der Ukraine. Im Februar 2010 wurde er Präsident der Ukraine, am 22. Februar 2014 erklärte ihn das ukrainische Parlament im Zuge der Unruhen in Kiew aufgrund seiner Flucht für abgesetzt.

* Wjatscheslaw Kasymyrowytsch Lypynskyj war ein ukrainischer Historiker, politischer Philosoph, Publizist und Botschafter.