Sie ist meine Wahrheit —
und meine Erfindung

Dr. Gerald A. Matt / Monika Helfer

Sie ist meine Wahrheit — und meine Erfindung

Dr. Gerald A. Matt / Monika Helfer

Dein neues Buch ›Die Bagage‹ ist ein Spiegel-Bestseller. Es wurden schon mehr als 100.000 Exemplare verkauft. Hat dich der Riesenerfolg überrascht?

Und ob. Ich schaute, ob neben mir die Frau steht, die das Buch geschrieben hat. So wenig konnte ich es glauben, habe ich doch jahrelang schon Bücher geschrieben und bin aus dem Mezzanin nicht hochgekommen.

Was macht literarischen Erfolg aus und was verändert er?

Selbstbewusstsein ein wenig gesteigert, lange noch kein Größenwahn. Übermut beim Geldausgeben. Auch Eifer zum Weiterschreiben. Ob es wieder klappen könnte. Ob der Aufkleber ›Spiegel-Bestseller‹ mir die Treue hält. Am Schönsten beim Erfolg: Die stolze Familie, mein Mann: Siehst du, die Karten wurden neu gemischt, die Söhne sagen, du bist die Beste, die Tochter, Mama, ich hab’ es immer schon gewusst.

Du bist ja mit dem Schriftsteller Michael Köhlmeier verheiratet, hat dein großer Erfolg etwas in eurem Leben verändert? Michael erzählte mir, dass jetzt vorwiegend du am Telefon verlangt wirst …

Das stimmt ja nicht. In Michaels Präsenz hat sich nichts geändert. Zwischen uns bleibt alles verlässlich gut.

›Bagage‹. Warum dieser Titel? Wie autobiographisch ist dieses beziehungsweise dein gesamtes Werk? Wie siehst du das Verhältnis zwischen Fiktion und Wahrheit, gibt es Dinge, über die du sicher nicht schreiben würdest, Tabus?

Weil Bagage ein Super-Wort ist. Weil jeder eine Bagage hat, ob er es nun zugibt oder auch nicht. Autobiographische Teile gibt es in jedem Buch, ohne Fiktion wäre die Bagage aber nicht denkbar gewesen. Ich wollte ja keinen Heimatroman schreiben. Die Verknüpfung von Biographie und Fiktion finde ich spannend, wenn sich beides ineinander verkeilt, und der Leser nicht wissen kann, was wahr ist und was nicht. So war das Schreiben für mich spannend. Natürlich hatte ich Tabus. Vorstellungen, dass einige Verwandte mich abpassen und verprügeln, dass ich sie gekränkt hätte, also wartete ich ab, bis die wichtigen Personen unter der Erde liegen.

›Bagage‹ ist die Geschichte deiner Familie, aber auch eine Hommage an eine starke Frau, deine Großmutter Maria. Was hat dich bewogen, einen autobiographischen Roman zu schreiben und was bedeutete deine Großmutter für dich?

Meine Großmutter ist die auf dem Bild von der ›Bagage‹, von einem Maler — Gerhard Richter — gemalt, der sie nicht gekannt hat. Sie ist meine Wahrheit und meine Erfindung (habe sie ja nie gekannt — sie ist mit zweiunddreißig Jahren gestorben).

Neben Maria ist Lorenz, dein Onkel, eine zentrale Figur in deinem Buch. Dein Sohn heißt ebenfalls Lorenz? Was verbindest du mit Lorenz?

Lorenz ist der eigentliche Held in der ›Bagage‹. Obwohl noch nicht vierzehn, zieht er an den Fäden, beschützt die Mutter, sorgt dafür, dass die Bagage keinen Hunger leidet, wehrt Eindringlinge ab. Er ist ein Westernheld, der mit dem Gewehr für Ordnung sorgt. Unser echter Lorenz ist ein begabter Maler, sanft und verträumt.

Du stellst gerade ein weiteres Buch mit dem Titel ›Vati‹ fertig, das deine Familie, beziehungsweise deinen Vater in den Mittelpunkt stellt. Geht es dir auch darum, über das Schicksal deiner Familie hinaus eine Art Geschichtsschreibung zu betreiben?

Es ist einfach spannend, in seine Familie hineinzublicken, als läse man in einem fremden Buch. Mein Vater ist eine besondere Figur, büchersüchtig und weltfremd.

›Vati‹ klingt nicht sehr vorarlbergerisch, sondern eher ›bundesdeutsch‹ und zudem ein wenig spießig und antiquiert, warum dieser Titel?

Das ist der klassische Fünfziger-Jahre-Titel. Unser Vater — er stammt aus dem Lungau — wollte, dass wir Vati zu ihm sagen, eine Kuriosität in Vorarlberg, wo jeder zu seinem Erzeuger Papa sagt. Er wollte eben, dass wir etwas Besonderes sind, nicht zu den gemeinen Leuten gehören. Natürlich gehörten wir dazu.

Du hast dich entschieden in Vorarlberg, in Hohenems, zu leben. Auch in deinem Buch ›Die Bagage‹ geht es um deine Heimat. Was bedeutet Heimat für dich?

Heimat ist mein Mann, meine Kinder, Paula auf der Treppe, unser Haus, mein Bett, meine Utensilien, der Garten. Vorarlberg ist ein gutes Land, je älter ich werde, umso mehr kann ich das schätzen. Wir haben, was viele nicht haben. Untereinander sprechen wir Vorarlberger Dialekt.

Glaubst du, dass das Vorarlbergerische, also diese Sprache, auch einen Einfluss hat auf das, was du schreibst und wie du schreibst?

Man sagt mir, dass meine Sprache wie ins Hochdeutsch übersetzter Dialekt sei, das finde ich zwar nicht, aber sicher hört man in dem Ton die Amseln singen und die Tannen rauschen.

Wie wurde aus dir eine Schriftstellerin? War das die Verwirklichung eines Jugend-traumes? Gab es da so etwas wie ein Initiationserlebnis oder ein ungemein beeindruckendes Buch, beziehungsweise einen Autor, eine Autorin?

Das erzähle ich immer wieder, es klingt beinahe wie mein Echo, aber es stimmt. Ich hatte in unserem büchersüchtigen Haushalt mehr Bücher gelesen als andere ihr Leben lang. Jede Woche gingen meine Schwester und ich in die Gewerkschaftsbibliothek und liehen Bücher aus, jeder einen Stapel, den wir eine Woche später leergelesen hatten. Wir lasen so gierig, als würden wir die beschriebenen Seiten auffressen. Da sagte ich zu meiner Schwester: ›Ich schwöre dir, einmal werde ich auf so einem Buchrücken stehen.‹ Wir haben es mit einem Schwur besiegelt.

Dein Debut gabst du 1977 mit der Erzählung ›Eigentlich bin ich im Schnee geboren‹, seitdem hast du eine Vielzahl von Romanen, Hörspielen, Kinderbüchern und Theaterstücken geschrieben. In der Architektur spricht man gerne von einem Signaturwerk, einer Arbeit, in der sich die Haltung eines Architekten beispielhaft für sein ganzes Werk verdichtet. Gibt es so ein Werk von dir, so etwas wie dein wichtigstes Buch?

Mein wichtigstes Buch ist ›Die Bagage‹, weil es sicher das reifste ist. Ich hatte lange Jahre Gelegenheit, auf die Meisterschaft zu üben.

Du hast einige Kinderbücher geschrieben, was ist so reizvoll daran und wo liegen die Unterschiede zur ›Erwachsenenliteratur‹?

Kinderliteratur wird unterschätzt, es ist, als würde man sie nicht ernst nehmen, sie gar nicht zur Literatur zählen. Ich finde das ungerecht. Wenn Kinderbücher gut geschrieben sind, sollten sie so wertvoll sein wie die übrigen.

Wenn man sich die lange Liste deiner Bücher anschaut und an all die damit verbundene Arbeit und Zeit denkt, dann fragt man sich: Wieviel Zeit bleibt da noch für einen Alltag neben dem Schreiben?

Das Schreiben gehört zum Alltag, also ist der Alltag das Schreiben.

Für manchen Maler ist es sehr schwierig, ein Bild zu beenden und es nicht immer wieder zu perfektionieren, beziehungsweise nachzubessern. Wie geht es dir mit dem Beenden eines Romans, wann ist ein Roman fertig? Gibt es auch so etwas wie Angst vor der Veröffentlichung?

Sorge vor Veröffentlichung gibt es, Angst vor den bösen Rezensenten.

2018 wurde dein Roman ›Oskar und Lilli‹ (1994) von Arash T. Riahi unter dem Titel ›Ein bisschen bleiben wir noch‹ verfilmt. Bereits in den 1980er Jahren hast du ein Filmdrehbuch für ›Die wilden Kinder‹, einen Film von Christian Berger, verfasst. Wie filmisch sind deine Romane?

Mit dem Verfilmen ist das so eine Sache, es hängt unbedingt vom Regisseur ab, den man sich wünscht. Bei den wilden Kindern war Christian Berger ideal, weil er so ein feines Gespür für Verfassung und Abbildung von Personen und Szenen hat. Bei Arash hat mir gefallen, dass er seine eigenen Vorstellungen in das Buch einbringt und trotzdem die Charaktere nicht verändert. Für die ›Bagage‹ würde ich mir Haneke als Regisseur wünschen, seit ich sein ›Weißes Band‹ gesehen habe. So stelle ich mir die ›Bagage‹ dargestellt vor. Ich weiß allerdings nicht, ob ihm die ›Bagage‹ zusagt, wenn ja, sollte unbedingt er es verfilmen.

Nun zum Entstehen eines Romanes. Wie kommst du von der Idee zum Buch? Wie schreibst du? Gibt es da einen Generalplan? Ergibt sich manches auch so? Bist du selbst überrascht?

Am schönsten ist es, wenn ich mich beim Schreiben selbst überrasche, wenn der kleine Geist hinter meinem Rücken sagt, was ich schreiben soll.

In einem Interview hat Michael Köhlmeier einmal erklärt, dass er seinen Figuren beim Schreiben begegnet, eine ganz organische Sache also: Nicht er führt sie, sondern sie führen ihn. Ist dies auch deine Erfahrung?

Da geht es mir wie Michael. Unsere Romanfiguren sitzen auf unserer gemütlichen Treppe, die wie ein eigenes Zimmer ist, mit Büchern an den Wänden, und wenn wir an ihnen vorbeigehen, fragen wir sie nach ihrem Befinden.

Du sprichst leise, sanft, genau und mit Bedacht. Die Protagonisten deiner Romane sind oft Außenseiter, Randfiguren, ja Träumer. Ist dies auch Ausdruck von Skepsis gegenüber Pathos, großen Gesten und heroischen Figuren?

Ich glaube, das wird daran liegen, dass ich finde, auch Außenseiter sollten eine Stimme haben, jeder Mensch überhaupt, ich will ja keinen Sozialkitsch schreiben, ich hab’ gern verwahrloste Kinder zum Thema, das wird daran liegen, weil ich als Kind auch immer herumgeschubst worden bin.

Du hast auch gemeinsam mit Michael veröffentlicht. Was verbindet euch künstlerisch, was trennt euch und was ist das Geheimnis eines bis heute glücklichen Miteinanders?

Wenn es ein Geheimnis ist, kann man nicht darüber reden, weil es ein Geheimnis ist.

Was macht eine Geschichte zu einer guten Geschichte? Wann ist sie erzählenswert? Was löst das Erzählen aus?

Erzählenswert ist alles, vorausgesetzt, es ist gut geschrieben.

Es ist auch gut, wenn du die nächste Frage nicht beantworten möchtest. Eure Tochter ist tragisch durch einen Unfall zu Tode gekommen. Inwieweit hat dir das Schreiben geholfen, damit fertig zu werden?

Schreiben ist keine Therapie. Paula sitzt bei unseren Romanfiguren auf der Treppe, sie versteht sich zum Beispiel sehr gut mit Joel Spazierer, einer Figur aus Michaels Roman. Ich unterhalte mich jeden Tag mit Paula übers Schreiben — sie war ja auch eine Schriftstellerin, und ich bin mir sicher, sie wäre eine sehr gute geworden.

In deinem Roman ›Schau mich an, wenn ich mit dir rede!‹ geht es ums eine komplexe Familiensituation und eine Frau, die für ihren Liebhaber ›The Dude‹ als ›Schönheit gilt, der kein Gift der Welt etwas anhaben konnte‹. Wie wichtig ist Schönheit für dich und für deine Literatur?

Schönheit in allen Dingen ist für mich wichtig, im Leben und in der Literatur. Hässliches macht mich hoffnungslos. The Dude ist für mich der wahrhaftige Kerl, der respektlos genug ist, um sich vor nichts zu fürchten.

Du bist eine leidenschaftliche Sammlerin. Euer Haus erinnert an eine Wunderkammer, was fehlt noch in deiner Sammlung?

Das weiß ich nicht. Das weiß ich erst, wenn ich etwas Bestimmtes sehe, es kann für andere völlig unwichtig sein, für mich hat es Zauber.

Vielen Dank für das Gespräch!