Brauchen wir weniger Politiker und vielleicht ›mehr Poeten und Künstler‹ in der Politik?
Um Himmelswillen! Es gibt keinen Beruf, der sich weniger zur Demokratie eignet, als der des Künstlers. Der Künstler hat mit Demokratie etwa so viel am Hut wie der Diktator, weniger sogar. Der Diktator darf in einem Akt gesellschaftlicher Notwehr erschossen werden, das wäre moralisch gedeckt. Der Künstler, der im Als-ob lebt, darf in seinen Werken alles, und wer ihn erschießt, begeht einen schnöden Mord, Heldentum darf er dafür nicht beanspruchen. Politik, wie wir sie heute verstehen und uns wünschen, nämlich Ausgleich zu sein zwischen verschiedenen Interessen, funktioniert nur im Kompromiss.
Und der Künstler?
Der Künstler, wenn er als Künstler auftritt, ist nicht kompromissfähig. Er ist der Schöpfer seiner Werke, mit wem sollte er einen Kompromiss eingehen? Er ist antiegalitär. Er ist egoistisch in dem Sinn, dass er, wenn er als Künstler auftritt, immer nur auf sich selbst hört. Er will ankommen oder untergehen, der Steuermann ist aber immer er, er kann sich nicht einer Abstimmung unterwerfen.
Könnten Künstler zumindest Vorbild sein?
Er ist Vorbild für alles mögliche, nicht aber für demokratisches Verhalten. Wenn er doch gezwungen wird, Kompromisse einzugehen, so tut er es unwillig, und tut er es zu oft, wird seine Kunst und sein Künstlertum darunter leiden. Das soll weder eine Dämonisierung noch eine Romantisierung des Künstlers sein, es gibt nur kein Beispiel, nicht ein einziges, das zeigen könnte, wie mithilfe demokratischen Verfahrens ein Kunstwerk geschaffen oder auch nur verbessert worden wäre. Der Künstler in der Politik ist nur dann denkbar, wenn er als Politiker sein Künstlertum ablegt und einfacher Bürger ist. Das wird er, ist er ein guter Künstler, nur ungern wollen, und wenn, dann nur vorübergehend. Politiker sollte man immer nur vorübergehend sein, jedenfalls demokratischer Politiker. Politiker als Berufung, diesen Titel könnte nur ein Diktator für sich in Anspruch nehmen.
Nach dem 2013 verstorbenen Philosophen Krzysztof Michalski führt die politische Betonung moralischer Werte zur Abgrenzung gegenüber irgendwelchen ›anderen‹, zu ihrem Ausschluss aus der eigenen Gemeinschaft. Michalskis Fazit lautet: ›Werte verbinden nicht, Werte trennen.‹ Können Sie seiner Meinung etwas abgewinnen?
Er hat recht: Werte schließen aus. Und das sollen sie auch. Wenn ich sage, du sollst nicht töten, und dieses Gebot zu einem Wert in der Gesellschaft erhebe und die Gesellschaft auf diesen Wert verpflichte, dann schließe ich in der Tat all jene aus, die gegen diesen Wert verstoßen — also die Mörder. Der Wert des Lebens trennt mich vom Mörder. Der Mörder wird ausgeschlossen, indem er eingeschlossen wird. Die politische Betonung moralischer Werte führt zum Ausschluss einiger aus der Gesellschaft, ja, das ist wahr. Wäre es nicht so, würde jede Gesellschaft in kurzer Zeit zusammenbrechen. Absolute Freiheit zu fordern, das dürfen nur die Kunst und die Literatur. Der Marquis de Sade hat das getan und große Werke hervorgebracht. Auf seinen Phantasien ein Staatswesen aufzubauen, daran hätte nicht einmal er selbst gedacht. Er war einer der wenigen, die im Konvent gegen die Todesstrafe gestimmt haben. Jedes Rechtswesen gründet auf Werten, die zuvor definiert wurden. Ohne ein solches Rechtswesen, nach dem sich die Politik zu richten hat, ist gesellschaftliches Zusammenleben nicht möglich. Ein Blick zurück, zum Beispiel ins 14. Jahrhundert, als der sogenannte Hundertjährige Krieg tobte, zeigt, wie das Leben aussah ohne verbindliches Recht, das auf verbindlichen Werten beruhte: Ein ›normales‹ Leben war nicht möglich. Es galt das Recht des Stärkeren, und das ist kein Recht, denn es beruht auf keinen Werten.
Das heißt, wir brauchen einen starken, von der Politik unbehelligten Rechtsstaat, die klare Gewaltenteilung im Sinne von Montesquieu?
Ja, Die interessantere Frage ist, wie weit kann der Rechtsstaat gehen in der Verteidigung der seinen Gesetzen zugrunde liegenden Werte? Darf er den Ausnahmezustand ausrufen? Der Ausnahmezustand, so sagt ja schon der Begriff, erlaubt Dinge, die unter normalen Zuständen nicht erlaubt sind. Also: Darf der Staat, um das Recht zu schützen, das Recht brechen? Wer entscheidet über den Ausnahmezustand? Wenn es wahr ist, dass souverän nur der ist, der über den Ausnahmezustand entscheidet, wer verleiht diese Souveränität? Wem wird sie verliehen? Wer hebt den Ausnahmezustand wieder auf? Wie verteidigt eine Wertegemeinschaft ihre Werte, wenn einer dieser Werte lautet: Keine Gewalt? Der Begriff ›Wert‹ kann nur gedacht werden, wenn die Verteidigung des Wertes mitgedacht wird. Dies aber führt rasch zu einem Paradoxon.