Paul Albert Leitners Reise nach Tirol
oder über die Ferne der Nähe

Paul Albert Leitners Reise nach Tirol oder über die Ferne der Nähe

Unsere Geschichte einer mittlerweile über Jahre anhaltenden Freundschaft nahm ihren Anfang in Tirol und führte uns in gemeinsamen Reisen um die ganze Welt. Am Wegesrand lagerten nicht nur die wundersamsten Bilder, die Leitner mit seiner Kamera unermüdlich einsammelte, sondern auch die seltsamsten Erlebnisse, die er mit seinem unersättlichen Hunger nach Bildern provozierte, von seiner vorübergehenden Festnahme am Ground Zero, wo er Männer in dunklen Anzügen und Sonnenbrille fotografierte, die sich als FBI-Männer entpuppten, bis hin zur Beschlagnahmung von den aus der elterlichen Metzgerei in Jenbach mitgenommenen und unter dem Sakko versteckten Kaminwurzen durch den kubanischen Zoll. Problemen mit den Revolutionsgarden in Teheran oder den Verwünschungen eines senegalesischen Gendarmen, den Leitner mit seiner Fotografie zur Weißglut trieb, soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Jedenfalls ist Leitner kompromisslos, fanatisch und stur auf ein, sein Motiv fixiert. Dabei lässt er sich weder von Staats- noch Naturgewalten, weder von ihn verdächtigenden und drangsalierenden Ordnungshütern noch von beißwütigen Hunden in Bukarest oder peitschendem Eisregen in Moskau abhalten. So bestand die Herausforderung mancher Reise für mich darin, in der Rolle des Mediators und Kunstvermittlers zu überzeugen und Konflikte um — angeblich — unerlaubte Bilder zu schlichten.

Ich traf Paul Albert Leitner zum ersten Mal im Café Central in Innsbruck, damals wie heute eine der Enklaven und Schutzzonen des Geistes in einer der touristischen Vermarktbarkeit verpflichteten Stadt, die seit Langem einen Aderlass an Künstlern und Intellektuellen hinnehmen muss. Auch Leitner war einer jener künstlerischen Renegaten, die das Weggehen der inneren Emigration vorzogen. Der Anlass unseres Kennenlernens war traurig, die damalige Fotoszene hatte den tragischen Tod eines jungen Fotografen zu beklagen und da war einer, der in seinem hintergründigen und subversiven Humor, der besonderen Tirolern eigen ist — ich denke da an Otto Grünmandl oder Heinz Gappmayr — meine Aufmerksamkeit auf sich zog und mit einem Satz nicht nur die Stimmung in der Runde aufhellte, sondern geradezu sein Programm, seine Obsession für die Zukunft formulierte: ›Das Leben geht weiter und das Leben ist voller Bilder.‹ Leitner war schon damals einer, für den das Leben eine unerschöpfliche Abfolge von Bildern war, einer, den der Hunger nach der Welt und ihren Bildern antrieb — und bis heute ist er einer geblieben, der im Unterwegssein zu Hause ist.

Es war nicht überraschend, dass Paul Albert Leitner die Welt in Jenbach bald zu eng wurde und ihn die Sehnsucht nach Weite und dem Anderem zum Reisenden machte. Aus jenen Tagen stammt eine substantielle Arbeit Leitners, ›die Heimat austreiben‹, eine Art visueller Exorzismus, arrangierte Heimatszenen aus vorgefundenen klischeehaften Heimatbildern, die er in einem Akt der Befreiung mit Fundstücken aus Holz, die er zu Kreuzen arrangierte, verfremdete, fotografierte und dadurch hinter sich ließ.

Infolge präsentierte er sich selbst als Reisender vor projizierten Reisebildern in seinem Jenbacher Wohnzimmer, ein wunderlicher Zyklus, in dem sich unerfüllte Träume zu beklemmenden Bildern verdichten; Bilderserien, die schon vieles enthielten, was Leitners Arbeit auch heute noch ausmacht: eine präzise Beobachtungsgabe verbunden mit einer surrealen Vorstellungskraft, ein Auge für die Geheimnisse des Sichtbaren, für die Realität hinter der vermeintlichen Wirklichkeit. Seine Welt ist nur scheinbar realistisch, dokumentarisch, sein Blick geht tiefer, den Dingen auf den Grund, kennt keinen Gegensatz zwischen analytisch und poetisch, real und surreal, er ist dem auf der Spur, was uns vom Sichtbaren unsichtbar bleibt, ist ironisch, melancholisch, fröhlich und tragisch, erzählerisch und lakonisch, witzig und traurig, überraschend und bisweilen banal, wie das Leben selbst.

Und wenn Paul Albert Leitner nun eine fotografische, wenn auch zeitlich dosierte Heimreise nach Tirol antrat, scheint er sich nun gleichsam die Heimat wieder einzutreiben. Er stellt uns ›seine Tiroler Welt‹ in ihrer für ihn absurden Beschaffenheit vor, reiht sie in sein Leitner’sches ›Theatrum mundi‹ ein. Unter seinem Blick wird das einst Nahe seltsam fremd, das Vertraute fern.

Da ist das Bild einer verblichenen, schäbig gewordenen Grenzmarkierung der einst mythologisch aufgeladenen und politisch brisanten Brennergrenze, da sind das Land durchziehende, das Private von einer als gefährlich und fremd gewordenen Welt abschottende, verfallende Zaunlandschaften; da sind Leitners Blicke aus Hotelräumen auf eine Landschaft, die ihr eigenes Klischee zu übertreffen scheint.

Leitner präsentiert uns vor sich hinrostende US-Straßenschlitten, die vom Ende des amerikanischen Traums künden, alles Spiegelbilder seiner obsessiven und surrealen Weltsicht, zeigt uns einen schmutzigen, weggelegten und vom ihm gefundenen ehemals weißen Minirock, und damit eine ganze Welt eines jungen unbekannten Mädchens. Wenn er zwei Muslime, eine Frau mit Kopftuch und einen Mann mit Kinderwagen, vor der Kirche in Telfs präsentiert, wirkt das wie eine Paraphrase auf bekannte Tirol-Motive von Alfons Walde.

Für seine fotografische Tirol-Reise legte er 671 Kilometer mit einem Leihwagen zurück, um vor Ort ›Fotorundgänge‹, wie er selbst sagt, zu machen. Leitner ergeht sich seine Welt, stunden- und tagelang, wo immer er auch sein mag.

Seine Arbeitsweise basiert auf Langsamkeit und Genauigkeit. Leitner nimmt sich Zeit, ist einer, der dem Zufall auf der Spur ist. In einem Interview zitierte er einmal Hartmut Böhme: ›Der Flaneur sucht nicht den schnellsten Weg, von hier nach dort, sondern bevorzugt die Odysseen des Zufalls.‹