Parallelwelt Zirkus

Parallelwelt Zirkus

Der Zirkus zieht weiter, die Vorstellung ist vorbei. Zurück bleibt der Mythos Zirkus, der Traum von einem anderen, exotischen und nomadischen Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Am Ende von Charlie Chaplins Film ›The Circus‹ sitzt er in den kreisförmigen Konturen, die von der abgebauten Manege übrig geblieben sind. Es ist ein melancholischer Moment. Da waren der fulminante Auftritt als Clown, die Wutausbrüche des gefoppten Zirkusdirektors, das schallende Gelächter des Publikums, die brennenden Liebesbekundungen der schönen Akrobatin. Aus und vorbei. Gleichzeitig ist dieser Moment auch eine Metapher für die Freiheit und Möglichkeit, ein neues Leben beginnen zu können. Der Zirkus zieht weiter — doch ohne seinen unfreiwilligen Helden und Störenfried, ohne den Protagonisten des Films.

Mit seiner Figur des Tramps hat Charlie Chaplin der Filmgeschichte eine Gestalt geschenkt, die wie keine sonst Grenzüberschreitung thematisiert. In ›The Circus‹ übernimmt der Tramp die Rolle des Clowns, jener subversiven Figur, die Sinn und Unsinn eins werden lässt und nicht nur die Regeln der Welt außerhalb der Manege, sondern auch die des Zirkus selbst aus den Angeln hebt. Chaplin lässt in seinem Zirkusfilm nicht nur die Dichotomie von Alltagsernst und Zirkusunterhaltung hinter sich, er überschreitet auch die Trennlinie zwischen dem Zirkus als realer Lebensform und heterotoper Parallelwelt, in der, wie François Foucault meinte, die Wirklichkeit nicht nur repräsentiert, sondern auch gewendet und bestritten wird. Der Zirkus ist hier transgressives Lebensmodell und Möglichkeitsform zugleich.

Die Entgrenzung der Manege begleitet auch Denken und Werk Federico Fellinis. In ›La strada‹ und ›I Clowns‹, aber auch in anderen Filmen Fellinis steht der Zirkus nicht nur für ein ephemeres, isoliertes Spektakel, sondern ist eine existenzielle Erkenntnis- und Erfahrungsquelle und bildet die glänzende Folie für Fellinis Theatrum mundi. Fellinis Zirkusfiguren und die von ihnen repräsentierten Sehnsüchte infizieren nicht nur das Leben der anderen Akteure, sondern auch derer, die der Handlung vor der Leinwand folgen. Fellinis Zirkus ist überall. Als Lebens- und Weltmodell weist Fellinis Zirkuswelt weit über die engen Grenzen der Manege hinaus, indem er nicht einen besonderen Ort und seine außergewöhnlichen Menschen lokalisiert, sondern einer Idee huldigt. Als die Hauptfigur von ›8½‹ — Marcello Mastroianni alias Guido, Regisseur und mögliches Alter Ego von Fellini — an seiner Arbeit an einem Filmprojekt zu scheitern droht und, um den Nachstellungen seiner Geldgeber, seines Produzenten, von Reportern und natürlich auch von Frauen zu entgehen, sich seinen Selbstmord vorstellt, treten musizierende Clowns auf den Plan. Guidos Welt verwandelt sich in eine Manege, und er vereint — begleitet von Nino Rotas betörender Musik — nunmehr als Regisseur und Zirkusdirektor die Akteure seines Lebens in einer Art tanzartigem Reigen. Leben und Arbeit sind versöhnt, der Film kann endlich entstehen. Der Clown erscheint hier als eine Art Deus ex Machina, ein Mittler zwischen Wirklichkeit und Imagination, zwischen Welt und Kunst (Film), ja zwischen Leben und Tod.

Sehnsucht und Angst, Neugier und Bedrohung, Schönheit und Deformation, Empathie und Voyeurismus — der Zirkus ist in jeder Hinsicht ein Ort der Extreme. Artisten, Akrobaten, Hochseil- und Trapezkünstler, Dompteure, Schul- und Dressurreiter, Clowns, Freaks, Stallmeister, Tiere und Zirkusdirektor bilden sein schrill-buntes Personal. Sie alle arbeiten mit dem Reiz der Sensation und des Nervenkitzels, mit dem Bedürfnis des Publikums nach Kurzweil, Staunen, Spannung, Lachen und emotionaler Anteilnahme. Da besiegen Akrobaten scheinbar mühelos die Schwerkraft, schwingen von Trapez zu Trapez, als seien sie Affen, biegen und verrenken sich wie Schlangen. Magier zersägen Menschen, ohne ihnen Schaden zuzufügen, lassen Menschen und Tiere verschwinden, um sie mir nichts, dir nichts aus Kisten, Zylindern oder Hemdsärmeln wieder hervorzuzaubern. So perfekt alles wirkt, so kann es doch schiefgehen. Auch das macht die Attraktion des Zirkus aus. Und jagten einst Freaks mit ihren physiognomischen Absonderlichkeiten dem Publikum wohlig-schaurigen Grusel über den Rücken, so lässt August, der Clown, heute die Vernunft unvernünftig und vice versa erscheinen und entstellt die Gesetze einer vermeintlich unumstößlichen Weltordnung bis zur (Un-)Kenntlichkeit. August ist tolpatschig, rücksichtslos und überschwänglich in seinem Handeln, seinen Wünschen und seinem Scheitern, eine Lachnummer, witzig und traurig zugleich. In ihm und im weißen, eleganten Clown, seinem übereifrigen und humorlosen Counterpart, spiegeln sich die Befindlichkeiten und Wünsche des Publikums wider.

Es ist kein Zufall, dass der auf ein Massenspektakel ausgerichtete Zirkus mit seinen Wundern und Entgrenzungen vor allem in der Kunst und im Film seinen Widerhall findet. Alexander Calders Miniaturzirkus und seine Mobiles, Peter Blakes Zirkusbilder mit Duchamps als reisendem Clown bis hin zu Ulrike Ottingers Freak- und Sideshows verarbeitenden Filmen künden von einer bis heute anhaltenden künstlerischen Faszination für den Zirkus.

Der Zirkus, der am Beginn des 21. Jahrhunderts von einer hypermodernen Unterhaltungsmaschinerie des Industriezeitalters zu einem Ort nostalgischer Verklärung wurde, ist als kultureller Sehnsuchtsort lebendiger denn je. Der kanadische Zirkusforscher Paul Bouissac spricht vom Zirkus als einem ›metakulturellen Code‹, der in unterschiedlichen Darstellungsformen, der Literatur, dem Film, der bildenden Kunst, weiter ausgeformt wird und dadurch neue Deutungen erhält.

Denn nicht nur die spektakulären Akte in der Manege machen die Faszination des Zirkus aus. Der Zirkus funktioniert auch als verschworene mobile Gemeinschaft, die nach ihren eigenen Regeln und in ihren festgelegten Rollen lebt. Er ist an Darstellungsformen und Genres, an feste Abläufe, performative Routinen und vor allem an bekannte Figuren gebunden. Die temporäre Architektur des Zirkus, seine Wagen und vor allem sein Zelt, lassen meist am Rande der Stadt einen strahlenden und vor Energie sprühenden Kosmos voller Wunder erstehen, der die Ordnung der Welt temporär auf den Kopf zu stellen scheint. Es sind die Dichte, die Intensität und die Authentizität des unmittelbar Erlebten, die die Besucher anziehen. Es sind die prachtvollen Lichter, Schriften, Plakate und Kostüme, die dem Zirkus seine eigene Aura bescheren. Seiner Magie, seinen fliegenden Menschen, reitenden Affen und herzzerreißend heulenden Clowns, seinen physischen und psychischen Grenzüberschreitungen können sich weder Jung noch Alt entziehen. Wenn Charlie Chaplin die vom abgezogenen Zirkus hinterlassene Demarkationslinie überschreitet, ist klar: Der Clown ist überall. Gott sei Dank!