Le Surréalisme,
c’est moi!

Le Surréalisme, c’est moi!

Das Bild ist eine reine Schöpfung des Geistes. Es kann nicht aus dem Vergleich, vielmehr nur aus der Annäherung von zwei mehr oder weniger voneinander entfernten Wirklichkeiten geboren werden. Je entfernter die Beziehungen dieser Wirklichkeiten zueinander sind, desto stärker wird das Bild sein.‹ Die Kritik an der ›sogenannten kartesianischen Welt, die uns umgibt‹, an einer ›unhaltbaren Welt […] wogegen jede Form des Aufstands gerechtfertigt‹ sei, propagierte André Breton. Dabei ging es ihm vor allem auch um den ›Aufstand‹ gegen den überkommen-traditionellen Schönheitsbegriff. Die in seinem Manifeste du Surréalisme (1924) zitierte Aussage seines Freundes Pierre Reverdy entspricht dabei ganz dem von Breton selbst so genannten ›hasard objectif‹, der Annäherung zweier in ihrer ›Binnenlogik‹ konträrer Ideen oder Dinge, die aus ihrer Begegnung heraus wie zwei verschiedene aufeinanderprallende Kräfte eine ungeahnte neue Kraft entfalten — eine Synthese, welche die Grenze zwischen ›Subjekt‹ und ›Objekt‹, zwischen Traum beziehungsweise Unterbewusstsein und Wirklichkeit aufhebt. Das Ziel ist die Auflösung der Grenze zwischen Kunst und Leben bis hin zu ihrer gegenseitigen fruchtbaren Verflüssigung. Dieser Perspektivenwechsel — der ›Durchbruch von der »Denkform« zur »Lebensform«‹, wie es Ernst Cassirer einmal nannte — geht auf das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts zurück. Literarisch wird diese Haltung in den 1870 in Paris erschienenen Les Chants de Maldoror des Isidore Ducasse, genannt Comte de Lautréamont, formuliert, welche von Breton 1919 im Journal Literature nachgedruckt und seither als Poetik der Übertretung (Gilbert Lascaolt) berühmt und vielfältigst rezipiert wurden. ›Mit diesem Text vollzog sich eine Volte hinsichtlich dessen — was künftig als Schönheit zu gelten hat. Lautréamonts diesbezügliche poetische Neubestimmungen waren vorderhand degoutant, provokativ und nihilistisch — »schön« etwa »wie das Zittern der Hand bei Alkoholsucht«‹. Die meistzitierte Passage aus Lautréamonts Gesängen ist allerdings die vergleichsweise liebevolle Beschreibung der Schönheit eines Knaben: ›Er ist 16 Jahre und vier Monate alt. Er ist so schön wie die Einziehbarkeit der Raubvogelkrallen; oder auch wie die Unschlüssigkeit der Muskelbewegungen in den Wunden der Weichteile der hinteren Genicksgegend; oder vielmehr wie jene perpetuelle Rattenfalle, die von dem gefangenen Tier selbst immer von Neuem gespannt, allein und unaufhörlich Nagetiere fangen kann und die sogar unter Stroh versteckt arbeitet; und vor allem wie die unvermutete Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch!‹ Unter den surrealistischen Malern gibt es kaum einen, der Lautréamonts Gesänge nicht illustriert hat. 1934 lieferte Salvador Dalí seinen Beitrag — einen herausragenden Radierzyklus, der für Dalís wohl wichtigstes grafisches Werk gehalten werden kann.

1945 folgte eine weitere Hommage Dalís an Lautréamont (Homenaje a Lautréamont), welche jene berühmte Begegnung ›von zwei mehr oder weniger voneinander entfernten Wirklichkeiten‹ auf einem Seziertisch zu einer Ikone des Surrealismus werden lässt. Die alptraumhaften Radierungen zu den Gesängen des Maldoror, die Dalí für den Verleger Albert Skira gefertigt hat und in denen Dalí, wie er sagte, dem bösen Anderen in sich, dem Abartigen und Abwegigen, dem Furor und der Zerstörung, der Deformation und dem Verfall seine Reverenz erwies. Maldoror, der, wie Dalí einmal schrieb, ›alles verleugnet hat, Vater, Mutter, Vorsehung, Liebe, Ideal, um nur noch an sich selbst zu denken und der schließlich auch mein Leben überschattet hat‹.

Dalí gehört zu Recht zu den berühmtesten und wohl bedeutendsten Malern seiner Generation. Weltweit wird er an seinen in altmeisterlichem Stil und nach seiner sogenannten paranoisch- kritischen Methode gemalten Sujets (von der brennenden Giraffe bis zur schmelzenden Uhr) erkannt. Dalí war einer der ersten Künstler, der sich mit Design, Kino und Massenmedien auseinandersetzte und moderne künstlerische Vermarktungsstrategien entwickelte, die heute vorrangig mit dem Namen Warhol oder Koons assoziiert werden. Dem Verfahren der Surrealisten um Andre Breton, die mit der ›ecriture automatique‹ die Bildwelt des Unterbewussten über einen passiven Zustand des Ich evozieren wollten, setzte Dalí seinen demonstrativen Individualismus entgegen und reagierte polemisch auf die von der Gruppe vorgebrachten politischen Vorwürfe (Sympathie für den spanischen Diktator Francisco Franco) und den Ausschluss seiner Person aus dem Kreise der Surrealisten: ›Ich bin kein Surrealist, ich bin der Surrealismus (›le Surrealisme, c’est moi!‹). Surrealismus ist keine Partei oder Marke, es ist ein Geisteszustand, für jeden einzigartig, der von keiner Vereinigung, Tabus oder Moral beeinflusst werden kann. Es ist die totale Freiheit und das absolute Recht zu träumen.‹ Sein ›Le Surréalisme, c’est moi!‹ unterstreicht den ironisch gebrochenen, aber dennoch ausgesprochen hegemonialen Anspruch Dalís (als ›Staat/Etat‹ also, ungeachtet einmal seines Sonnenkönigs angesehen zu werden): Wenn Dalí den Surrealismus persönlich wie kein anderer verkörpert, liegt dies vor allem daran, dass er das Prinzip des ›hasard objectif‹ nicht nur vertritt, sondern gleichsam alle denkbaren, voneinander entfernten Wirklichkeiten in sich vereint — und den Surrealismus dadurch persönlich verwirklichte und lebte. Er ließ seine Legende auch nicht erst um sich herum entstehen, sondern brachte sie gleich selbst hervor. ›Ein Leben lang spielt er der Welt den Exzentriker vor, der an der Grenze des Wahnsinns lebt, den großen Provokateur und Tabubrecher. Er liefert den Medien die lebende Karikatur des genialen Künstlers.‹ Dabei machte Dalí sich unzählige Male Rollen zu eigen und kultivierte seinen Auftritt bis zur Marke. ›A blasing pine tree, an Archbishop, a giraffe and a cloud of feathers went out the window‹, untertitelte das New Yorker Magazin Time vom 14. Dezember 1936 ein auf dem Cover wiedergegebenes Porträtfoto des ›Surrealist[en] Salvador Dalí‹ von Man Ray.

Dalí war ein Multimediakünstler, bevor dies zum künstlerischen Alltag wurde, einer, der sich fast auf jedem Feld der Kunstproduktion betätigte, der von Bühnenbildern über Parfumflakons bis hin zu Schmuck so ziemlich alles entwarf, mit Luis Bunuel Alfred Hitchcock und Walt Disney arbeitete, Werbespots entwarf, in Fernsehshows auftrat und seine Gemälde als Covermotive für ›Vogue‹, ›Harper’s Bazaar‹ und ›Town and Country‹ zur Verfügung stellte. Elementare Gedanken, Ideen und Praktiken Dalís haben bis heute nicht nur Aktualität als Gegenmodelle zu einer noch immer primär kartesianisch geprägten Welt, sondern beeinflussen auch wichtige Positionen der bildenden Kunst, ohne dass diese als ›surreal(istisch)‹ im Sinne eines Ismus zu bezeichnen wären: Da ist die Auflösung der Grenzen zwischen Hoch- und Populärkultur , die Inszenierung des Künstlers als Medienstar wie es Warhol verkörperte, die Megalomanie eines Damien Hearst, die Sakralisierung und Vermarktung des Kitsches durch Jeff Koons, der psychoanalytische Zugang zum Bildnerischen, das im Traum zum Vorschein kommende Unterbewusstsein einer Louise Bourgeois, die Selbstinszenierung eins Francesco Vezzoli, der sich im Gespräch mit mir einmal als Dalí-Jünger bezeichnete oder die Rezeption kunstgeschichtlicher Themen und Techniken wie bei Glenn Brown, um nur ein prominentes Beispiel zu nennen.

Die visionären, oftmals verkannten Aspekte von Dalís außergewöhnlichem Schaffen wirken nicht nur künstlerisch nach, sie nahmen insbesondere die heute wirksamen Strategien des Kunstmarktes vorweg.