›Ja, ich habe um meine Zukunft gekämpft‹

Dr. Gerald A. Matt / Hella Pick

›Ja, ich habe um meine Zukunft gekämpft‹

Dr. Gerald A. Matt / Hella Pick

Der Titel Ihres Buches lautet ›Unsichtbare Mauern‹. Mauern sind Ihr wiederkehrendes Thema, Mauern, die Sie ein Leben lang begleiteten, die Unsicherheit des entwurzelten Kindes, die Unsicherheit bezüglich der eigenen Identität. Ihr Buch, auch ein Akt der Selbstfindung, Selbstreflexion?

Ja. ›Unsichtbare Mauern‹ ist ein sehr ehrliches Buch. Ich habe mich darin selbst analysiert. Und eines war mir immer schon bewusst: Wenn man ein Flüchtling, ein Emigrant ist, wenn man aus seiner Heimat weggerissen wurde, bleibt eine Unsicherheit, eine fortwährende Identitätskrise. Auch wenn mich diese tiefsitzende Unsicherheit nie mehr verlassen wird, hat mir die Arbeit – die Flucht in die Arbeit – sehr geholfen.

Sie haben ja auch in der Öffentlichkeit, sogar mit Ihrer Mutter, nur Englisch gesprochen.

Ich wollte absolut nicht, dass wir in der Öffentlichkeit Deutsch sprechen. Hat meine Mutter etwa bei einem Spaziergang Deutsch gesprochen, wurde ich wütend, auch wenn weit und breit kein Mensch zu sehen war. Erst mit 13, 14 Jahren habe ich über einen Lehrer, in den ich sehr verliebt war und der mich ermunterte, wieder Deutsch zu sprechen, zur Sprache meiner Kindheit zurückgefunden.

Da gibt es einerseits diesen Kampf um Identität, die Suche nach Sicherheit, und gleichzeitig haben Sie ein sehr kosmopolitisches Leben geführt, zwischen den Welten, und fernab von jeder Sicherheit?

Das ist kein Widerspruch, im Gegenteil, das sind zwei Seiten derselben Medaille.

Ich finde den Titel eines Ihrer Bücher, ›Guilty Victim – Schuldiges Opfer‹ – sehr treffend, bringt er doch diese Ambivalenz der österreichischen Vergangenheit auf den Punkt.

Ja, der Antisemitismus ist in Österreich nicht verschwunden und die Aufarbeitung der Nazizeit begann sehr spät und ist noch nicht abgeschlossen. Ich vergesse nicht, was uns angetan wurde und ich verzeihe es auch nicht. Aber trotz allem bin ich so gerne wieder in Österreich!

Sie bezeichnen sich heute selbst als weltliche Jüdin. Dabei hat Ihnen vor allem auch Ihre Zeit in den USA, wo Sie Ihr Judentum nicht mehr verheimlichen mussten, sehr geholfen. Ich hatte ein Gespräch mit Arik Brauer, der mir sagte: ›Ich wurde erst durch Hitler zum Juden.‹ Würde das für Sie auch zutreffen?

Nein, das würde ich nicht sagen. Denn da war, auch wenn meine Familie nicht religiös war, immer eine gewisse kulturelle Tradition, ein Selbstverständnis. Aber ich habe erst mit der Wiesenthal- Biografie angefangen, darüber nachzudenken, was das überhaupt bedeutet für mich. Simon Wiesenthal war kein religiöser Jude, aber ein sehr bewusster Jude. Die Auseinandersetzung, die Gespräche mit ihm haben mir die eigenen Probleme, das Leben und die Geschichte des Judentums viel näher gebracht. Also nicht, dass ich das Judentum und den Holocaust irgendwie in mir versteckt habe, aber heute habe ich kein Problem damit, mich als Jüdin zu bekennen.

Hat das auch Ihr Verhältnis zu Österreich geändert?

Mein Verhältnis zu Österreich war eigenartigerweise nie schlecht. Ich bin sehr bald nach Ende des Kriegs nach Österreich gekommen, meine Mutter hatte Bekannte hier in Wien, Nicht-Juden, die versucht haben, etwas von ihrem Besitz zu retten. Und da waren noch zwei, drei kleine Bilder, und die habe ich zurückgebracht. Dann habe ich angefangen, Urlaub in Österreich zu machen. Auch meine Mutter ist dann jedes Jahr zur Kur nach Gastein gefahren, wie schon ihre Eltern. Und als ich in den 80er-Jahren für den ›Guardian‹ gearbeitet habe, habe ich Berichterstattungen über Österreich gemacht und Bruno Kreisky gut kennengelernt. So kam es, dass ich mich wieder als Österreicherin zu fühlen begann.

Sie kamen mit den Kindertransporten 1939 in das Vereinigte Königreich.

Ja. Ich war dann auch bei Pflegefamilien. Meine Eltern waren getrennt und meine Mutter hatte, obwohl wir alles verloren haben, Glück und konnte ein Visum ergattern, sodass wir uns in London wiedersahen. Meine Großmutter aber blieb in Prag und wurde Opfer des Holocaust.

Vielleicht noch zu den Kindertransporten. Sie sehen diese heute auch kritisch. Warum?

Ich war zufällig bei einer Konferenz zum Thema ›Kindertransporte‹. Und da erfuhr ich erst, wie ungefähr 12.000 Kinder ausgewählt wurden, die aus Deutschland und Österreich nach England gebracht und gerettet wurden. Es waren vor allem Zionisten, die die englische Regierung von der Idee der Kindertransporte überzeugten. Sie wollten ganz bestimmte Kinder, die dann hoffentlich nach Palästina kommen würden, um ein Land für Juden aufzubauen. Und dafür wollten sie nur vollkommen gesunde Kinder und Kinder, die aus guten, also vor allem aus gebildeten und wohlhabenden Familien stammten, die nicht auffallend jüdisch, nicht auffallend religiös waren, also keine von den religiösen, meist armen ›Schtetl-Kindern‹. Und die sind dann alle umgekommen. Natürlich waren die Kindertransporte eine wunderbare Sache, aber man soll auch wissen, dass es da auch eine hässliche Seite gab.

Wie würden Sie sich aus heutiger Sicht als junge Frau beschreiben? Sie waren eine Ausnahmeerscheinung. Es gelang Ihnen immerhin mit 17, als junges Mädchen, auf die London School of Economics zu kommen und auch die Finanzierung der herausragenden, aber teuren Ausbildung zu sichern. Waren Sie selbstbewusst und mutig?

Ich glaube, ich war da noch viel zu kindisch. Ich bin ja bei meiner Mutter aufgewachsen, die ohne Geld nach England gekommen war, weil man ihr alles weggenommen hatte. Und sie musste die ganzen Kriegsjahre als Köchin arbeiten. Und ich war die ›Köchinstochter‹. Ich wollte keinesfalls irgendeinen der mir damals angeratenen ›Frauenjobs‹, wie etwa Sekretärin. Ich wollte etwas lernen und weiterkommen. Ja, ich habe um meine Zukunft gekämpft.

Sie waren zu einer Zeit Korrespondentin, auch an gefährlichen Schauplätzen, als es noch vollkommen unüblich war, dass Frauen in der Außenpolitik als Korrespondentinnen eingesetzt wurden. Haben Sie sich als Pionierin gefühlt?

Ja, vor allem am Anfang in Afrika, sicher. Da war ich wirklich die einzige Frau unter den europäischen Korrespondenten, die damals über die Konflikte und Verhandlungen berichtet haben, die zur Unabhängigkeit geführt haben.

Haben Sie jemals als Frau Ressentiments erlebt, Zurückweisungen?

Also diese kleine Gruppe von Korrespondenten vor Ort war wirklich lieb zu mir. Und ich hatte ja auch einen Vorteil: Als Frau erinnern sich die Leute an einen. Und ich konnte alle diese neuen Politiker in Afrika sehr leicht kennenlernen. Also, Frau zu sein ist manchmal ganz nützlich. Später gab es das sehr wohl: Die Korrespondenten bei den Vereinten Nationen sahen sich als reiner Herrenclub und wollten mich partout nicht dabeihaben. Das habe ich ihnen aber nachhaltig abgewöhnt.

Sie haben über die Unabhängigkeit, den Panafrikanismus, die Zeit der großen afrikanischen Hoffnungen geschrieben. Wenn Sie jetzt auf Afrika schauen, Bürgerkrieg, Emigration, Armut, Korruption – was ist da schiefgelaufen?

Das ist sehr traurig. Zu der Zeit, als ich dort war, in den späten 50er-Jahren und Anfang der 60er-Jahre, da gab es unglaublichen Optimismus und Selbstbewusstsein. Die Politiker der neuen Länder wollten – beziehungsweise sagten es zumindest –, Frieden und Zusammenarbeit, ein einiges und prosperierendes Afrika. Sie wollten etwas Schönes aufbauen. Und dann kamen die Korruption, der Größenwahn, die Armut. Interessant ist, dass zu meiner Zeit, in der ständig über Unabhängigkeit gesprochen wurde, die Frage der Kolonialgeschichte, die jetzt so intensiv besprochen wird, kein Thema war. Und auch nicht die Religion und die Gefahren, die von ihr ausgehen. Alle dachten nur an die Zukunft. Die Forschung und Analyse des Gesterns sind sehr wichtig. Doch heute dominiert zu sehr der Blick zurück, die Vergangenheit. Dabei werden die Gegenwart und ihre Probleme, etwa der wachsende Einfluss Chinas auf Afrika, und vor allem die Visionen für morgen völlig vergessen.

Sie hatten ja eine große Leidenschaft für die amerikanische Politik und widmen ihr viel Platz in Ihrem Buch. Pierre Salinger, der Pressesprecher von Kennedy vertraute Ihnen, Sie begleiteten den Goldwater-Wahlkampf, Sie sprachen mit Henry Kissinger und kritisierten Nixons Charakter und fielen Kennedy sogar einmal in die Arme. Was hat Sie so interessiert an Amerika?

US-amerikanische Politik ist faszinierend, es ist einfach ein Land mit weltweitem Einfluss, alles was dort geschieht, hat Einfluss auf die Welt. Denken Sie an die gegenwärtige gefährliche Polarisierung, die aber nicht nur ein amerikanisches Problem ist. In den vergangenen Wochen habe ich immer wieder befürchtet, dass die Demokratie in Amerika stirbt. Aber jetzt, angesichts der Wahlen – niemand hat das erwartet, dass die Demokraten so gut aussteigen – habe ich wieder Hoffnung.

Es gab die Idee vom Ende der Geschichte, die nun selbst Geschichte ist. Welches sind die wichtigsten Konfliktlinien, wo sehen Sie die Gefahren heute?

Abseits des brandgefährlichen Russland-Ukraine-Krieges sehe ich zukünftig zunehmende Konflikte mit China. Letztlich einen zunehmenden Wettbewerb und eine zunehmende Auseinandersetzung zwischen demokratischen und totalitären Systemen. Der Westen weiß nicht oder einigt sich nicht darauf, wie mit dem aufstrebenden China umzugehen ist: Einerseits braucht man den Handel mit China, man kann China nicht abschneiden vom Welthandel, andererseits wachsen die Abhängigkeiten. Und China ist unberechenbar.

Sie haben ja in Ihrem Leben wirklich spannende, interessante Persönlichkeiten getroffen. Gibt es eine, für die Sie besonderen Respekt haben, die Sie hervorheben möchten?

Ich komme eigentlich immer wieder zu Willy Brand. Weil ich ihn nicht nur als Politiker so sehr schätzte. Gleich, als ich ihn kennengelernt habe, haben wir lange über Deutschland, über Geschichte, über den Holocaust, über Schuld gesprochen. Und daraus ist eine wirklich gute Freundschaft entstanden. Er hat mich zu einem viel besseren Verständnis des Holocaust gebracht, nicht nur in dem Sinn, wie man es verstehen kann, sondern auch, wie man es fühlen kann. Und das hat mir geholfen, mich mit Deutschland zu versöhnen. Und das wiederum hat für mich wirklich viel Gutes für mein Leben gebracht.

Ist Ihnen in der Zeit Ihres Journalisten-Daseins ein ›scoop‹, ein Knüller gelungen?

Ja, einmal, da war ich zufällig im Weißen Haus. Das war, als Nixon seinen Rückzug ankündigte. Ich hab‘ das vielleicht eine Minute früher als die Agenturen an meine Zeitungen geschickt. Also das war ein großer Erfolg (lacht).

Was macht eine gute Journalistin aus? Was hat Sie ausgemacht? Welche Qualitäten braucht man da?

Vor allem, dass man versuchen soll, soweit es möglich ist, die Wahrheit zu schreiben. Guter Journalismus beruht auf Vertrauen. Das heißt sachlich berichten, und sich nicht selbst dauernd profilieren wollen.

Also auch eine gewisse Bescheidenheit.

Ja, im Vordergrund muss die Arbeit stehen, nicht man selbst.

Heute spricht man zunehmend kritisch vom Gesinnungsjournalismus, der nicht berichtet, was ist, sondern wie es sein soll. Wie weit darf man die eigene Haltung transportieren? Sie selbst haben ja Nixon nicht sehr sympathisch gefunden, um es vorsichtig zu formulieren, und auch sehr kritisch über ihn und seine Politik berichtet. Wo ist da die Grenze?

Man muss differenzieren zwischen einer Berichterstattung und einem Meinungsartikel. Und eine gute Zeitung, ein guter Journalist kennen den Unterschied. Wenn sie Berichterstattung machen, müssen sie einfach beschreiben, was sie sehen, hören, gehört haben, was man ihnen gesagt hat. Und da muss man beurteilen können, was wichtig ist und was unwichtig ist. Das ist auch die Kunst des guten Journalismus. Und dann natürlich ist es mir als Journalistin eben auch erlaubt, einen Artikel zu schreiben, in dem ich meine eigene Meinung oder meine Analyse darstelle. Und das machte ich sehr gerne.

Vielen Dank für das Gespräch!