Ich stand auf
und war nicht mehr dieselbe

Dr. Gerald A. Matt / Marina Abramović

Ich stand auf und war nicht mehr dieselbe

Dr. Gerald A. Matt / Marina Abramović

Mit Ihrem gefeierten Projekt ›Leben und Tod der Maria Callas‹, das in schwierigen Pandemie-Zeiten in der Bayerischen Staatsoper sein Debüt hatte, haben Sie sich einen langen künstlerischen Wunsch erfüllt. Die Opernaufführung wird im Juli dieses Jahres in München zu sehen sein. Was fasziniert Sie so sehr an Maria Callas’ Leben?

Als ich 14 Jahre alt war und in der Küche meiner Großmutter frühstückte, hörte ich eine Stimme, die aus einem alten Radio kam, das wir damals hatten. Ich erinnere mich, dass ich vom Stuhl aufstand, die Lautstärke aufdrehte und hemmungslos weinte. Das war das erste Mal, dass ich Maria Callas singen hörte. Seitdem wollte ich alles über ihr Leben und ihre Arbeit wissen.

Trotz aller Unterschiede: Indem Sie über sie sprachen, haben Sie auch über sich selbst gesprochen?

Ich sah viele Ähnlichkeiten zwischen Maria Callas und mir. Sie ist Schütze wie ich, hatte eine schwierige Mutter und glaubte so sehr an die Liebe, dass sie schließlich an einem gebrochenen Herzen starb. 

Wie haben Sie sich auf dieses herausfordernde Projekt vorbereitet? Wie hat die Pandemie Ihr Leben und Ihre Arbeit beeinflusst?

Ich habe das Gefühl, dass ich mich mein ganzes Leben lang auf dieses Projekt vorbereitet habe. Ich hatte das Glück, noch mitten in der Pandemie dieses ambitionierte Projekt in München zu starten und vor 500 Menschen in der Bayerischen Staatsoper aufzuführen.

›Leben und Tod der Maria Callas‹ dreht sich um elementare Fragen der menschlichen Existenz. Inwiefern ist das Opernprojekt eine Weiterführung Ihrer künstlerischen Arbeiten und Ideen?

Ich denke jeden Tag über den Tod nach. Ich denke über die Tatsache nach, dass wir mit einem Verfallsdatum auf diese Welt kommen. In dieser Oper präsentiere ich sieben verschiedene Arten, für die Liebe zu sterben.

Können Sie sich als Künstlerin, deren Arbeit so ausdrucksstark und persönlich ist, vorstellen, dass dieses Stück oder auch andere Ihrer Werke ohne Sie aufgeführt werden können? 

Natürlich kann ich mir das vorstellen. Tatsächlich geschieht es bereits. Eine meiner bahnbrechendsten Performances, ›House with the Ocean View‹, bei der es darum ging, zwölf Tage lang im Raum ohne Nahrung vor den Augen des Publikums präsent zu sein, wurde bereits zweimal während meiner Retrospektive ›The Cleaner‹ wiederaufgeführt. Die Wiederaufführung einer solch starken Performance erzeugte viele Emotionen in mir und gab mir die Hoffnung, dass meine Arbeit für immer weiterleben kann, nachdem ich nicht mehr auf dieser Welt bin.

Was sind die zentralen elementaren Ideen, an denen Sie kontinuierlich gearbeitet haben, und was waren die wesentlichen Veränderungen oder Erweiterungen? 

Am Anfang meiner performativen Praxis lag der Fokus meiner Arbeit auf dem physischen Körper. Ich war daran interessiert, meine körperlichen Grenzen auszuloten. Während meiner Zeit mit Ulay, der bis in die 1980er Jahre auch mein Lebenspartner war, arbeiteten wir an der Erforschung der Juxtaposition zwischen männlicher und weiblicher Energie. In diesem Moment in meinem Leben hat sich mein Interesse dem Publikum als Objekt der Performance zugewandt, wie 2014 während ›512 Hours‹ in der Serpentine Gallery in London.

Ihr Projekt im MoMA ›The Artist is Present‹ erlangte weltweite Bekanntheit, ein 736stündiges Schweigewerk, bei dem Sie drei Monate lang jeden Tag unbeweglich im Atrium des Museums saßen und in die Augen der Besucher schauten, die eingeladen waren, die Ihnen abwechselnd gegenübersaßen. Wie kam es zu diesem Projekt?

Ich war einer der ersten Performancekünstler, der eine komplette Retrospektive im MoMA bekommen hat. Als der Kurator, Klaus Biesenbach, mit dem Titel für die Ausstellung ankam, da dachte ich, ich sollte die Gelegenheit nutzen, wirklich jeden Tag im Museum präsent zu sein. Ich wollte zeigen, wie echte Transformation durch eine lang andauernde Performance geschehen kann. Ich bin ein großes Risiko eingegangen, denn wir waren uns nicht sicher, ob die Leute mir tatsächlich gegenübersitzen würden. Wir alle wissen, wie beschäftigt New York sein kann. Ich war irgendwie überrascht von der unglaublichen Reaktion des Publikums und von der Art und Weise, wie sie sich auf das Stück bezogen haben. Das war in der Tat eine transformative Erfahrung für mich und das Publikum. 

Wie schwierig waren Ihre Anfänge als Künstlerin? Haben Sie viel Ablehnung erfahren? Wie sind Sie damit umgegangen? Und wie wichtig war Durchhaltevermögen?

Meine Anfänge in Ex-Jugoslawien waren sehr schwierig. Niemand glaubte, dass Perfomance-Kunst eine echte Kunstform sei. Ich war täglich mit Ablehnung konfrontiert, und die Leute lachten mich aus. Ich glaubte weiter an mich und an die Kraft dieses Mediums, das wirklich immateriell und zeitbasiert ist. Durchhaltevermögen, Willenskraft und körperliche Stärke spielten eine große Rolle bei der Art und Weise, wie ich meine Performances vortrug.

Zu Beginn Ihrer Karriere führten Sie ein sehr nomadisches Leben. Zeitweise lebten Sie mit Aborigines und Tibetern zusammen. Wie hat das Ihre spätere Arbeit beeinflusst, und hat es auch Ihr Interesse am Schamanismus geweckt?

 Aborigine, tibetische und schamanische Kulturen lieferten eine wesentliche Lernkurve für das Verständnis der körperlichen, mentalen und spirituellen Komponenten, die ein so wichtiger Teil meiner Arbeit wurden. Ein nomadisches Leben spielte auch eine große Rolle in meinem Leben. Es lehrte mich, wie man immer mehr von immer weniger haben kann. 

Sie haben Ihre Memoiren ›Walk Through Walls‹ genannt. Was waren die schwierigsten Mauern in Ihrer Karriere? Wie haben Sie den Weg von der hungernden Künstlerin zur Berühmtheit geschafft?

Als ich 70 war, beschloss ich, meine Memoiren zu schreiben. Mein Leben war schwierig, schön, herausfordernd, geheimnisvoll und ich hoffe, dass es vor allem jüngere Generationen von Künstlern inspirieren kann. Ich betrachte mich nicht als Berühmtheit. Die Öffentlichkeit hat das auf mich projiziert.

Wenn es einen Star in der Welt der bildenden Künste gibt, dann sind Sie es. Wie hat der Ruhm Ihr Leben verändert? Hat er Sie selbstbewusster und selbstsicherer gemacht oder vielleicht sogar verletzlicher und zur Zielscheibe von Kritikern?

Glücklicherweise kam der Ruhm in einem späten Stadium meines Lebens. Er hat mich nicht verändert. Er gab mir nur ein größeres Verantwortungsgefühl.

Sie haben ein Institut gegründet, das Marina Abramović Institute. Was ist die Idee dahinter? 

Nachdem ich 2010 ›The Artist is Present‹ beendet hatte, stand ich von diesem Stuhl auf und war nicht mehr dieselbe. Ich erkannte, dass ich ein höheres Ziel hatte, bei dem es nicht nur um meine Karriere ging. So dachte ich über das Marina Abramović Institute (MAI) nach. Am Anfang gab es die Idee, ein physisches Gebäude als Hauptsitz des Instituts zu haben. Leider stellte sich das als zu teuer heraus, und zusammen mit dem Vorstand beschlossen wir, die immaterielle Natur der Performancekunst zu respektieren und eine nomadische Institution zu gründen. Unser Motto lautet: ›Kommt nicht zu uns, wir kommen zu euch.‹ Seit 2010 macht das MAI Projekte weltweit: Sao Paulo 250.000 Besucher in zwei Monaten, Sydney 35.000 Besucher in 12 Tagen, Athen 55.000 Besucher in zwei Monaten, Istanbul, Bangkok 60.000 beziehungsweise 35.000 Besucher in zwei Monaten während der Pandemie. Unser Institut konzentriert sich auf die Präsentation von langdauernden Arbeiten von jungen Künstlern, zusammen mit Übungen der Abramović-Methode, mit der Idee, das Publikum im Verständnis und der Realisierung von langdauernden Performances zu schulen.

Sie haben gesagt, es gibt drei Marinas: die Kriegerin, die Spirituelle und die Bullshit- Marina, die nicht an sich glaubt. Wie kommen sie miteinander aus?

Sie leben in völliger Harmonie miteinander. Und auch die Bullshit-Marina glaubt sehr an sich.

Vielen Dank für das Gespräch!