Frau Scholl, Sie haben sehr lang in Russland gearbeitet, wissen sehr viel über Russland, haben Bücher über Russland geschrieben. Lieben Sie Russland noch, jetzt, nach dem russischen Überfall auf die Ukraine?
Man muss immer unterscheiden zwischen der russischen Führung, den Eliten und den Menschen in Russland. Dieser Krieg ist ein Krieg des Herrn Putin und seiner engsten Entourage, nicht der Menschen in Russland. Natürlich liebe ich Russland.
Der deutsche Bundeskanzler hat von einer Zeitenwende gesprochen, wie sehen Sie das?
Zum einen haben wir plötzlich mitten in Europa Krieg, was wir seit den Jugoslawien-Kriegen nicht mehr hatten. Das ist immerhin schon gute dreißig Jahre her. Zum anderen hat natürlich die europäische politische Elite den Herrn Putin ordentlich falsch eingeschätzt. Ich kann mich noch erinnern, ich hatte von vorherein ihm gegenüber kein gutes Gefühl. Natürlich wissen wir, „Gefühl“ ist in der Politik keine Kategorie.
Sie haben ihn auch persönlich kennengelernt?
Ich habe Putin kennengelernt. Er ist unglaublich verklemmt, ein kleiner verklemmter Mann. Ich werde sofort verprügelt werden, weil ich ja die These habe, dass kleine Männer nicht in die Politik sollten. Da wird man des „body-shamings“ beschuldigt. Ich bin trotzdem der Meinung! Putin hat sich seinerzeit, als er kurzfristig nicht Präsident sein konnte, weil er schon zwei Amtszeiten hinter sich hatte, einen noch Kleineren als seinen Stellvertreter im Präsidentenamt ausgesucht. Aber abgesehen davon, dass er klein und verklemmt ist, kommt er aus dem Geheimdienst. Ich weiß, das klingt wie eine Banalität, aber der Geheimdienst erzieht seine Leute in einem gewissen Geist, und diesen Geist hat er bei einer seiner ersten Reden sofort ganz deutlich festgelegt. Er hat damals gesagt, der Zerfall der Sowjetunion war die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Das ist bis heute sein Programm. Ich glaube, dass die Europäer einen großen Fehler gemacht haben, als sie ihm seine Behauptung geglaubt haben, dass er Russland geöffnet hat. Das stimmt einfach nicht. Er ist derjenige, der Russland wieder zugemacht hat, der nur die Spielregeln des Kalten Krieges beherrscht, und daher dieses Spiel „mein Einflussbereich“ – „dein Einflussbereich“ belassen wollte. Und als das nicht funktioniert hat, war er auch bereit, einen Krieg zu beginnen.
Sie kennen Russland sehr gut, die Geschichte, die Literatur. Wenn Sie in die Zukunft blicken, wird Russland irgendwann Teil der EU sein? Oder ein Vasall von China?
Ich glaube, weder das eine noch das andere. Russland als Teil der EU kann ich mir nicht vorstellen, dazu ist Russland zu groß und auch nur zu einem Teil Europa. Vasall Chinas? Da spricht dagegen, dass die Russen sich, egal, wo sie leben, auch im asiatischen Teil, als Europäer betrachten. Sie werden immer irgendwo in der Mitte sein.
Halten Sie die Reaktion des Westens, die militärische Unterstützung der Ukraine für richtig? Haben Sie Verständnis für das anfängliche Zögern Deutschlands und die Aufrufe gegen Waffenlieferungen?
Nein, dafür habe ich null Verständnis. Das ist ein Krieg, den man führen muss. Es gibt leider Kriege – und ich bin im Herzen absolut Pazifistin und gegen jede Art von Waffen – aber es gibt leider Kriege, die geführt werden müssen, und dieser Krieg gehört dazu. Ich finde dieses Zögern niederträchtig. Russland hat die Ukraine ohne jeden Vorwand, ohne jeden Grund überfallen. Man kann nicht zulassen, dass Russland die Ukraine einfach vernichtet.
Sie waren in Tschetschenien. Sie wurden dort sogar verhaftet – war das schon Ausdruck einer zunehmend autoritär werdenden Politik in Russland? Wie gefährdet ist man als Journalist, wenn man in Russland berichtet?
Wir waren nicht gefährdet. Wir hatten, und das gilt für die westlichen Kollegen immer noch, einen österreichischen Pass, konnten jederzeit ausreisen. Als ich in Tschetschenien verhaftet worden bin – das war eine Sache von sechs Stunden – haben wir die Botschaft in Moskau alarmiert. Da wurde sofort heftig herumtelefoniert, nach sechs Stunden haben sie uns laufen lassen. Für russische Journalisten hingegen kann es lebensgefährlich werden. Ich denke an meine Kolleginnen, wie Anna Politkowskaja, die in Moskau vor ihrem Wohnhaus erschossen wurde. Die hat man auch in Tschetschenien festgenommen, ihr gedroht, die Kinder umzubringen, sie an die Wand zu stellen, und so weiter. Das haben sie sich bei uns nicht getraut. Das trauen sie sich bei westlichen Journalisten insgesamt nicht. Aber natürlich hat sich die Situation jetzt massiv verschärft. Im zweiten Tschetschenien-Krieg hat Putin erklärt, es sei eine anti-terroristische Aktion. Das Wort „Krieg“ durfte nicht erwähnt werden. In so einer Situation haben es Journalisten naturgemäß schwer.
Kann es sein, dass solche Morde ohne das Wissen des Regimes geschehen?
Nein. Das glaube ich überhaupt nicht. Ich bin sicher, dass das Regime es vielleicht nicht angeordnet, aber wohlwollend zur Kenntnis genommen hat. Als der Mord an Anna Politkowskaja bekannt geworden ist, hat Putin gesagt: „Mein Gott, die kennt ja eh niemand.“
Was sagen Sie zu den aktuellen Ereignissen, dem abgeblasenen Marsch der Wagnertruppe auf Moskau? Ist das ein Theaterputsch oder der Anfang vom Ende Putins ?
Der Ukrainekrieg ist in Wahrheit der Anfang vom Ende Putins. Was Prigoschin da aufführte, ist wohl mehr Größenwahn und Selbstüberschätzung. Das Ganze ist so merkwürdig gelaufen, dass eine abschließende Beurteilung schwierig ist. Aber es ist ein Zeichen großer Unsicherheit. Es brodelt in der russischen Gesellschaft. Interessant ist auch, dass die Armee, Polizei und Sicherheitskräfte einfach abwarteten. Dennoch halte ich einen zukünftigen Putsch für nicht unwahrscheinlich, aber dann wird er eher von der regulären Armee kommen, die die Kämpfe in der Ukraine satt hat.
Sehen Sie zukünftig eine Chance auf Demokratie in Russland?
Durchaus. Es gibt kein Land, in dem die Demokratie theoretisch keine Chance hat.
Sehen Sie die Demokratie insgesamt – wenn man sich die Weltlage ansieht, die Anzahl von totalitären Regimen, die sich immer weiter ausdehnen – als gefährdet an? Natürlich auch in Europa, Stichwort Vormarsch der Rechten. Gleichzeitig stellt sich etwa die „Letzte Generation“, die für Klimaschutz eintritt, letztlich gegen die Mehrheitsdemokratie.
Ich sehe die Demokratie in Gefahr, aber nicht durch die Jungen, die sich auflehnen gegen die alten Männer und Frauen, die ihre Zukunft kaputt machen.
Kommen wir ein bisschen zu Ihrer persönlichen Geschichte. Sie stammen aus einer jüdisch-österreichischen Familie, Ihre Eltern mussten fliehen und haben sich in England kennengelernt. Arik Brauer hat mir in einem Gespräch einmal gesagt: „Hitler hat mich zum Juden gemacht.“ Gilt das für Ihre Familie auch?
Ja, absolut. Mein Vater, der Arzt war, hat das sein Leben lang irgendwie verleugnet. Meine Eltern waren Kommunisten und mein Vater hat uns immer erklärt: „Wir haben keine Religion, wir sind Kommunisten und daher keine Juden.“ Ich habe ihn gefragt, warum ich dann regelmäßig träume, dass man uns holen kommt.
Wie hat diese Geschichte – die Ermordung der Großeltern, die Emigration – Ihr Leben beeinflusst?
Sehr stark. Heute würde man ja nicht mehr von Emigration sprechen, sondern von Flucht. Das hat mich massiv beeinträchtigt. Ich habe es schon erwähnt, ich habe als Kind, bis spät in meine Dreißiger hinein, bis ich meine eigenen Kinder bekommen habe, geträumt, dass man uns holen kommt, dass ich meine Eltern und Tanten irgendwie in Sicherheit bringen muss.
Können Sie sich noch an Ihren ersten Bericht erinnern? Die erste Reportage?
Im Fernsehen. Ich glaube, ich habe am Anfang nur Blödsinn gemacht. Ein Freund von mir hat zu meinem sechzigsten Geburtstag einen Zusammenschnitt meiner ersten Berichte gemacht, da habe ich einen Bericht gemacht über neue Kleider für Bauern im Kuhstall! Vollständig jenseitige Geschichten.
Was war Ihr wichtigster Bericht aus Russland? Gibt es einen, auf den Sie besonders stolz sind?
Stolz bin ich auf einige Geschichten, wo ich wirklich Russland hergezeigt habe. Meine allerliebste Lieblingsgeschichte: Da sind wir in ein Dorf gefahren, zu dem keine Straße geführt hat. Wir mussten den Bus an der Hauptstraße stehenlassen, weil der nicht durch den Gatsch gekommen ist. Wir sind dann mit dem Pferdewagen ins Dorf gefahren, und dort waren nur Frauen. Am Abend haben die mit mir zu trinken begonnen, Vodka, und zwar selbstgebrannten. Ich war so betrunken.
Was macht Ihrer Meinung nach einen guten Journalisten, eine gute Journalistin aus?
Neugier. Gute Journalisten müssen neugierig sein, müssen durchaus eine Meinung und Haltung haben, und trotzdem versuchen, alle Seiten einer Geschichte zu beleuchten.
Damit haben Sie eigentlich schon die nächste Frage beantwortet. Es wird ja heute auch stark um die Frage des Gesinnungsjournalismus diskutiert. Wie sehr darf ein Journalist aufgrund seiner Haltung die Wirklichkeit, sagen wir, verändern?
Nein, das darf er natürlich nicht. Dennoch muss er eine Haltung haben. Wenn man sonst jedem Recht gibt, der einem etwas erzählt, kann man ja auch keine Geschichte machen. Aber natürlich muss man schon versuchen, beide Seiten zu sehen. Problematischer ist, dass die politische Einflussnahme, auch im Zug der politischen Entwicklung insgesamt, massiv stärker geworden ist. Vor allem beim Fernsehen. Wir hatten schon Leute, die sich beschwert haben, vor allem, wenn Österreicher auf Besuch nach Moskau gekommen sind, und dann ihrer Meinung nach nicht genügend vorgekommen sind. Da wurde dann bis hinauf zum Generalintendanten beschwert. Mich hat das nie interessiert. Als Außenpolitik-Journalistin in Österreich hat man Narrenfreiheit. Erstens kennt sich niemand aus, zweitens interessiert es keinen, drittens schauen alle nur auf die innenpolitische Berichterstattung. Insofern hatten wir es besser.
Immigration, Asyl, Einwanderung, Migration, Flucht, dieser ganze Komplex, wie sehen Sie hier die Entwicklung?
Ich sehe sie sehr negativ. Vor allem sehe ich eine wirklich unzulässige Begriffsverwirrung. Wir sprechen ständig über Migration. In Wirklichkeit geht es zum Teil um Migration, zum Teil um Flucht! Dass wir die Flüchtlinge mit den Migranten vermischen und auf die Art sagen, die können ruhig alle wieder zurückgehen, ist niederträchtig. Anders kann man das nicht sagen. Für mich ist das natürlich auch ein persönliches Thema, was mich sehr stark berührt, da ist meine Familiengeschichte, aber auch, was ich in Tschetschenien erlebt habe, was dort mit den Tschetschenen passiert ist, was mit den tschetschenischen Flüchtlingen hier passiert, die ja sofort alle kriminalisiert werden.
Ich sehe sie sehr negativ. Vor allem sehe ich eine wirklich unzulässige Begriffsverwirrung. Wir sprechen ständig über Migration. In Wirklichkeit geht es zum Teil um Migration, zum Teil um Flucht! Dass wir die Flüchtlinge mit den Migranten vermischen und auf die Art sagen, die können ruhig alle wieder zurückgehen, ist niederträchtig. Anders kann man das nicht sagen. Für mich ist das natürlich auch ein persönliches Thema, was mich sehr stark berührt, da ist meine Familiengeschichte, aber auch, was ich in Tschetschenien erlebt habe, was dort mit den Tschetschenen passiert ist, was mit den tschetschenischen Flüchtlingen hier passiert, die ja sofort alle kriminalisiert werden.