Sie hießen ursprünglich Erich Brauer. Wie wurde aus Erich Arik?
Meine Frau ist eine Hebräerin und die Hebräer können ein ›E‹ nicht aussprechen. Sie hat mich einfach Arik genannt und das ist geblieben.
Würden Sie auf Erich noch hören, wenn Sie jemand so ruft?
Der Fuchs hat mich Erich genannt, der Hutter nennt mich noch immer Erich.
Ich erinnere mich an Ihre große Ausstellung im Leopold Museum 2016. Faszinierend war die unglaubliche Vielfalt der Arbeiten von Gemälden über Schmuck, Keramik, Skulpturen und Bauten bis zu Büchern, Schallplatten und Filmen, ein sehr poetisches, surreales, märchenhaftes Werk, in dem es aber letztlich um existenzielle Fragen des Menschseins geht. Wie politisch sind Sie, wie politisch ist Ihre Arbeit?
Ich bin politisch, Politik hat mein Leben geprägt. Ich kann mich an die Schießereien 1934 erinnern. Meine Mutter hat Matratzen zwischen die Doppelfenster geschoben. Ich war fünf und durfte nicht in den Kindergarten. Und alle sprachen über das Versagen der Sozialisten. Dann kamen die Nazis, der Terror, der Holocaust und das Verstecken und später das Erinnern und der Schmerz. Dennoch bin ich da rausgekommen ohne wirkliche Narben — ich war ja jung und elastisch. Im Vergleich zum Schicksal vieler anderer bin ich auf die Butterseite gefallen, sonst würde ich ja hier nicht sitzen. Aber das Wissen, dass sowas passieren kann und darüber, was Menschen Menschen antun können, das trägt man ein ganzes Leben mit sich. Natürlich nehme ich Anteil am Schicksal meiner Zeit. Es ist mir unerklärlich, wie ein Künstler das nicht tun kann. Obwohl ich nie die Absicht hatte, Kunst zu machen, die die Welt repariert, spiegelt sich die Welt, wenn auch in verschlüsselter Form, in meiner Malerei wider. Wenn das politisch ist, dann ist meine Arbeit politisch.
Sie waren nach dem Krieg auch aktiv in der Kommunistischen Partei?
Ich war fünf Jahre in der Jugendbewegung aktiv. Das habe ich mir den Rest meines Lebens vorgeworfen. Zuerst kamen die Stalin’schen Schauprozesse, und als die Russen in Budapest einmarschierten, hat es mir gereicht und ich bin nach Israel gefahren.
Es gab nach dem Krieg die Position, dass man nach dem Unvorstellbaren, dem Grauen des Holocausts, keine Kunst mehr machen könne und dürfe.
Das ist affektiert und verlogen. Das Gegenteil war und ist richtig.
Heute muss Kunst geradezu politisch sein, ja mehr noch politisch korrekt.
Das ist natürlich ein ›Wischiwaschi‹-Begriff — was für die einen korrekt ist, ist für die anderen eine Lüge und umgekehrt. Wenn man die Kunst, die Malerei wirklich liebt, dann weiß man, dass die Kunst mehr ist als Politik. Sie war auch immer aufrüttelnd, verstörend. Aber sie muss auch einlullen können, besänftigen können und glücklich machen.
Eine große Rolle in Ihrer Arbeit spielt die Bibel, vor allem das Alte Testament. In ihrem Buch ›Das Alte Testament, erzählt von Arik Brauer‹ sagen Sie, dass man darin ungeheuer viel erfährt, aber jedenfalls nichts darüber, was vor dem Urknall war.
Das sage ich zu Beginn des Buches, damit man in Schwung kommt. Ich halte auch fest, dass ich nie in meinem Leben religiös war und dass ich mir nicht vorzustellen vermag, dass eine Intellektuelle Kraft außerhalb des Kosmos diesen Kosmos erzeugt hat und auch nicht, woher die Welt kommt und wohin sie geht, aber damit finde ich mich gern ab. Dennoch ist das Alte Testament ein ungeheuer wichtiger Teil meiner Zivilisation. Auch in seinen Irrtümern, wo es naiv ist, besonders am Anfang bei der Erschöpfungsgeschichte, birgt es eine unglaubliche, enorme Weisheit und Wahrheit. Ich lese es in der Originalsprache. Ich habe mich mein ganzes Leben in der Malerei mit dem Alten Testament beschäftigt. Denn das Alte Testament ist nichts anderes als ›Phantastischer Realismus‹. Vieles ist historisch, vieles ist erfunden, aber alles ist mit einer unglaublichen Poesie und Fantasie aufgeschrieben. Es ist ein Jahrtausend-Kunstwerk, ein einmaliges Menschheitsdokument ersten Ranges.
Ihre Biografie ›Die Farben des Lebens‹ ist nicht in der Ich-Form geschrieben, sondern in der Er-Form. Warum?
Ich wollte keine Autobiografie schreiben, das ist ja inflationär. Aber ich wollte über Menschen schreiben, die ich kennenlernte, spannende Menschen, die typisch waren für meine Zeit, ob ich sie unter Brücken oder im Cottage-Viertel traf. Ich habe das Glück gehabt, so viele Leben zu leben.
Hat Ihre Biografie, ihr Leben Ihre jüdische Identität erweckt?
Ohne Hitler wär’ ich kein ›Jud‹! Was ist ja überhaupt der Jude? Ich bin nicht religiös, meine Vater kam aus Litauen. ich erinnere mich als Kind, dass meine Mutter, die gebürtige Wienerin, anders sprach als mein Vater. Er konnte sehr gut Deutsch, aber natürlich hatte er einen Akzent, einen ›russischen‹ wie man verschämt sagte.
Sie waren, als die Deutschen einmarschierten, neun Jahre alt. Haben Sie vorher schon sowas wie Antisemitismus wahrgenommen?
Ja, selbstverständlich. Der Antisemitismus war in allen Bevölkerungsschichten, vor allem gegen Juden aus dem Osten. Auch unter den Juden.
Wie war Ihre Kindheit und Jugend?
Wir haben gewohnt in Ottakring in einer Zinskaserne, wie die meisten Menschen — vier Personen, Zimmer, Küche, Klo am Gang. Ich hatte eine glückliche Kindheit. Von Ottakring aus ging das Leben in Richtung Wiener Wald, die Innere Stadt — das war Ausland. Alle waren da natürlich Sozialdemokraten, auch meine Eltern; innerhalb des Gürtels wohnten Kapitalisten, das waren Feindbilder.
Aber hat Kunst eine Rolle gespielt?
Ja, das wurde sehr gefördert durch die Eltern. Sie bemerkten, dass man mich als Wunderkind bezeichnete. Ich hielt das jahrelang für zynisch. Als ich meine Mappe und Zeichnungen in der Akademie dem Böckl präsentierte — ich habe sehr jung ausgeschaut, wie ein Kind, ohne Bart — und er erfuhr, dass ich erst 16 war, sagte er: ›Das is a Wundakind!‹
Können Sie sich erinnern an den Einmarsch der Deutschen, an Hitler am Heldenplatz?
Ja, ich habe ihn gesehen, den Führer und die Massen. Alle Buben, auch ich, sind an den Heldenplatz gerannt, ein Mordstheater. Ich bin auf einen Baum geklettert und habe diese merkwürdigen Sprechchöre gehört: ›Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Wir werden immer dürrer, die Juden immer fetter, Heil Hitler, unser Retter.‹ Das war damals ein ziemlich guter Reim, geradezu intellektuell (lacht). Und dann habe ich bemerkt, dass es wirklich ein Fehler ist, dass ich am Heldenplatz bin.
Haben Sie Angst gehabt?
Mehr Demütigung als Angst. Gleich nach dem Einmarsch gab es einige Tage keine Schule und dann war alles anders. Ich war das einzige jüdische Kind, war mit anderen Kindern sehr befreundet und durfte nicht mehr mit Ihnen reden. Das waren schmerzhafte Einschnitte in meinem Leben. Als mir der erste Preis am Schulsportfest vorenthalten wurde, weil ein Jude ja kein guter Läufer sein konnte, ist natürlich eine Welt zusammengebrochen. In meinem Elternhaus bin ich erzogen worden, dass die Gerechtigkeit auf der Welt herrscht. Später haben die Juden von nichts anderem gesprochen, als wer wo hingeschickt wird. Aber dass man organisiert in Gaskammern gesteckt wird, das hat niemand geglaubt.
Was ist ihrer Familien geschehen nach dem Einmarsch?
Mein Vater hat verzweifelt versucht, mit uns auszuwandern. Aber ich war zu klein und wir hatten kein Geld. Meine Mutter hatte nur den ›kleinen Ariernachweis‹. Dadurch, dass sie mit einem Juden verheiratet wurde, wurden ihre wenigen Ersparnisse in der Bank gesperrt. Mein Vater wurde in Riga ermordet. Als ich 13 Jahre alt war, habe ich in der Tischlerei der Kultusgemeinde gearbeitet, dadurch habe ich mich und meine Familie am Leben erhalten. Die Nazis haben ja nicht alle Juden deportiert, denn sonst hätten die Herren vom Judenreferat ja an die Ost-Front müssen.
Sie haben auch erzählt, dass Ihre Nachbarin, die bekennende Antisemitin war, sie auf der Toilette versteckt hat.
Sie hat Juden nicht mögen. Dennoch war sie freundlich, hat aber immer gemurmelt ›Juden schleicht’s euch nach Palästina‹. In Wirklichkeit ein guter Rat, den meine Eltern leider nicht befolgt haben. In der Kristallnacht hat sie mich vor Gestapo-Männern im Klo versteckt.
Sie haben noch einen Judenstern bei sich zuhause im Regal. Stimmt das?
Ja. Ich hatte ja mehrere.
Warum?
Souvenirs.
Wann mussten sie sich verstecken?
Als sie noch die letzten Juden holen wollten, habe ich mich in einem Schrebergarten versteckt und habe gewartet, bis die Russen gekommen sind. Überlebt habe ich, indem meine Mutter, die keinen Stern trug, mir helfen konnte. Nach zwei Wochen im Schrebergarten bin ich einmal nach Hause zu meiner Mutter, habe ein bisschen was Heißes gegessen und gebadet. Ich war frech und hatte Glück.
Haben Sie nach dem Krieg starke Rache-gefühle gehabt?
Nein. Die Leute, die ich verflucht habe, die waren ja nicht da. Die waren in Argentinien.
Haben Sie auch in der Nachkriegszeit persönlich Antisemitismus erlebt?
Ja, natürlich. Ich war damals schon 17 und habe mich zu wehren gewusst.
Wie hat sich Österreich heute verändert?
Zum Besseren. Eine völlig andere Generation ist herangewachsen. Es gab riesige Veränderungen, der Umgang mit Kindern, die Rolle der Frauen, alles, das spürt man nur, wenn man so alt ist wie ich.
Wie steht es um den Antisemitismus heute?
In Europa ist das ein Antisemitismus ohne Juden, das ist pathologisch. Und die Probleme zwischen Arabern und Juden sind leider sogar religiös geworden, ursprünglich war das ein nationales, sachliches Problem. Aber da geht es nicht um Grenzen, um Jerusalem. Sie wollen Israel weg, nicht nur als jüdisches, sondern auch als westliches Land. Da kann ich nur für Israel Partei ergreifen. Ich sehe keine Happy End, nicht in meiner Zeit.
Sie warnen vor einem durch die Flüchtlinge importierten Antisemitismus, den Sie für gefährlicher halten als jenen der Rechten und sorgen damit für Widerspruch, insbesondere beim linksalternativen Mainstream?
Ich habe im Laufe meines Lebens immer alles hinterfragt, gerade auch doktrinäre Selbstgerechtigkeit. Ein Fakt ist, dass ein neuer Antisemitismus mit den Flüchtlingen importiert wird. Ich sage, dass die Mehrheit der arabischen Muslime die Juden hasst. Sie fühlen sich vom Staat Israel gedemütigt. Es gibt auch in Europa immer mehr Übergriffe. Nehmen Sie Frankreich, wo viele Juden Angst haben und das Land verlassen.
Sie haben auch gesagt: ›Je länger Adolf Hitler tot ist, desto engagierter wird der Kampf gegen ihn geführt.‹ Ein Protest gegen moralische Selbstüberhöhung ohne jede Gefahr.
Alle schmeißen mit dem Wort ›Nazi‹ in allen Richtungen und sie wissen nicht, wovon sie sprechen. Es gibt nichts, das man mit der Nazi-Herrschaft vergleichen kann.
In Kürze werden die letzten Zeitzeugen nicht mehr da sein. Was wird dann bleiben?
Die Geschichte wird bleiben. In ihrer Ungeheuerlichkeit und Einzigartigkeit. Und zwar sehr lang.
Sie feierten vor Kurzem einen besonderen Tag. Darf ich Sie fragen, wie alt Sie wurden?
Ja, ich bin 90 Jahre, aber was sagt das?