Edward Hopper betonte die Bedeutung des ›Unterbewussten‹, des ›inneren Lebens‹ als Quelle für ›große Kunst‹. Die Imagination speise ‹die persönliche Vision der Welt‹ des Künstlers, die der Wirklichkeit näherkomme als eine ›genaue Kopie‹. Dabei geht Hopper — und das mag zunächst als Widerspruch erscheinen — stets von der gegenständlichen Welt aus, der er zeit seines Lebens treu blieb. Seine Gemälde, Aquarelle und zeichnerischen Studien weisen ihn als scharfen Beobachter der äußeren Wirklichkeit aus, die er jedoch in seinen Arbeiten in einen bühnenhaften Agitationsraum für die Imagination des Künstlers verwandelte. So treten scheinbar gegensätzlich empfundene Aspekte wie innen und außen, Augenblick und Zeitlosigkeit, Leere und Fülle, Natur und Artefakt, Physis und Psyche sowie Figuration und (formale und inhaltliche) Abstraktion simultan auf den Hopper’schen Bühnen auf und erzeugen ein Gefühl der Instabilität, des Ungewöhnlichen und der Unvorhersehbarkeit, indem sie die gewohnte Raum- und Zeitwahrnehmung des Betrachters irritieren.
Hopper verwendet ein immer wiederkehrendes Repertoire an Versatzstücken der Wirklichkeit: Innenräume, Häuser, Naturelemente, Zeichen des zivilisatorischen Alltags sowie Menschen. Sie dienen Hopper zur Darstellung der widersprüchlichen Phänomene — der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem, der Dynamik des Statischen, des Inneren im Äußeren oder umgekehrt. Bei den Betrachtungen von Hoppers Menschendarstellungen stechen die Figuren in ihrer Isolation sofort ins Auge. Weder Vergangenheit noch Zukunft scheinen für sie zu existieren, sie stellen keinen Kontakt zu ihrer Umgebung und den Gegenständen im Raum her. Sie bleiben losgelöst von Raum und Zeit. Hoppers Menschen sind in sich zurückgezogen, melancholisch. Sie erzählen uns nicht mehr über sich und ein mögliches Vorher oder Nachher ihres Handelns als das ›szenisch‹ Karge, das, was gerade der Fall ist. Dies weckt in uns den Willen zur Interpretation. Das betrifft auch die Blicke der Hopper’schen Figuren: Wohin sind Sie gerichtet? In ›Western Motel‹, 1957, sieht uns eine auf einem Bett sitzende Frau entgegen, ihr Blick trifft uns nicht wirklich, geht eher durch uns hindurch. Das Gros der Deutungsversuche sieht die Frau auf die Weiterreise warten, steht doch draußen der Wagen: ein Buick — wie Hopper in einem Text schreibt — zur Abfahrt bereit und drinnen der Koffer. Betrachten wir das Bild genau, erscheint jedoch eine andere Deutung plausibel: Das Bett, auf dem die Frau sitzt, ist gemacht — richtet man das Bett her, bevor man ein Motelzimmer verlässt? Die Frau könnte also ebenso gut gerade angekommen sein und zum Beispiel ihren Partner erwarten … Letztlich bleibt vieles offen. So lässt sich auch der Zeitpunkt des ›Geschehens‹ nicht festlegen: Das schräg einfallende Sonnenlicht kann gleichermaßen vom Morgen wie vom Abend künden. Vermutlich wird der schärfste ›kriminologische‹ Blick das Geheimnis nicht klären.
Nach dem Philosophen Karl-Heinz Bohrer beruht die ›Kultfigur Hopper‹ auf dieser ›Einsamkeit selbstbezogener Figuren‹ in Relation zum zeitgenössisch-zivilisatorischen ›Kult der Einsamkeit‹: Mag auch die Popularität von Hoppers Werk vorrangig auf der Suggestivität seiner Motive (der einsame Mensch, Symbole des ›amerikanischen Mythos‹, Ästhetik des ›Film noir‹) beruhen, so verdeckt dies, wie sehr sich sein ›Metarealismus‹ mit dem Verhältnis von Raum und Zeit, Wirklichkeit und Vorstellung auseinandersetzt. Da geht es um die Beziehung von innen und außen, die Dialektik von Stillstand und Bewegung und um das Licht als Raum, Zeit, Atmosphäre und Gefühl ›inszenierendes‹ Medium.
Hoppers Bild ›Excursion into Philosophy‹ zeigt einen gedankenverloren auf einem Bett sitzenden Mann, hinter ihm schläft eine Frau, neben ihm liegt ein aufgeschlagenes Buch. Hoppers Frau Josephine weist darauf hin, dass es sich bei dem Buch um ein Werk Platons handelt, dessen auf die illusionäre und ideale Wirklichkeit, auf Schatten und Licht ausgerichtete Erkenntnislehre wohl Hopper und seiner Welt sehr nahegekommen ist. Indem Hopper mit unterschiedlichen Sonnenständen, das heißt mit zu unterschiedlichen Tageszeiten entstandenen Lichteinfällen und Schattenwirkungen in seinen Gemälden spielt, macht er seine Räume zu Medien zur Darstellung des Ablaufs von Zeit.
Damit schafft er Irritationsmomente, die er durch die Behandlung des Raumes noch verschärft. So folgt in ›Western Motel‹ das Fußteil des Bettes im Verhältnis zur Wand, an die das Bett stößt, ganz offenbar nicht den Regeln der Zentralperspektive. Vielmehr schiebt sich das Bett parallel zur Bildebene in den Raum. Hoppers Bildwelten lassen an Erwin Panofsky in Bezug auf den Film formulierte Idee der ›Dynamisierung des Raums‹ und der ›Verräumlichung der Zeit‹ denken. Das Außen, die Welt, die Natur ist jeweils in nur angedeuteter, fassadenhaft, an ein Filmdekor erinnernden Ausgestaltung eher als Vorstellungsraum wiedergegeben denn als Realität — während die Details im Inneren (die Befindlichkeit der Frau) sich einer Entschlüsselung entziehen, eine Spannung, die uns ein Gefühl des Befremdens, der Orientierungslosigkeit, ja des Unheimlichen empfinden lässt. ›Hoppers scheinbar unverbindlicher Kunst gelingt es, uns das Anderswo, das Abwesende, das Herbeigesehnte ins Bewusstsein zu rufen. Er ist ein Meister der Spannung‹, schreibt John Updike.
Auch wenn Edward Hopper stets der Gegenständlichkeit verbunden bleibt, betrachtete er alle mit der Realität verknüpften Ansprüche auf Gültigkeit und Wahrheit mit äußerster Skepsis. Sein beständiges Schwanken zwischen Gewissheit und Zweifel konnte ihm die bloße Wiedergabe einer stabilen, weil objektiv-rational erklärbaren Welt nicht gestatten; so erschaffen seine Bilder vielmehr eine Wirklichkeit jenseits der Wirklichkeit, einen Metarealismus, in dem sich äußerlich erfassbare und innerlich empfundene Realitäten zu einer Einheit fügen. Hopper hinterließ uns eine unverwechselbare Bildsprache, ein faszinierendes bildnerisches Universum, dem wir uns nur schwer und irritierend entziehen können.