Gegen den totalitären Moralismus.
Eine Polemik.

Gegen den totalitären Moralismus. Eine Polemik.

Ein neuer totalitärer Moralismus greift um sich und vergiftet inzwischen nicht nur jede historische gesellschaftliche, ja auch künstlerische Debatte. Da werden Denkmäler gestürzt, Redakteure von Zeitungen wegen des Zulassens anderer Meinungen gefeuert, Professoren wegen nicht konformer Aussagen gemobbt, Schauspieler und Regisseure gnadenlos ohne jedes rechtsstaatliche Verfahren diskreditiert und vorverurteilt, Literatur wegen nicht zulässig erklärter Begriffe umgeschrieben, Kunstwerke, die nicht dem zeitgeistigen Moralkanon entsprechen, aus Museen entfernt, Quoten als Beurteilungsmerkmale von Kunst eingefordert und Kunst ausschließlich nach ihrer sozialen und moralischen Relevanz beurteilt.

Althergebrachte Bezeichnungen wie Mohrenbräu, Mohrenstraße oder ›Gasthaus zum Mohren‹ (übrigens Gründungsort der Deutschen Sozialdemokratie) werden zum casus belli eines neuen moralischen Puritanismus. Eine Debatte jedoch über die Entfernung des Logo (Cliche eines Schwarzen )ist sehr wohl nötig.

Wer darauf hinweist, dass ›Mohr‹ ursprünglich Menschen aus Marokko und Mauretanien bezeichnete und keineswegs negativ konnotiert war, Familien diesen Namen trugen und noch heute tragen und dass Rassisten mit dem ›N-Wort‹ beleidigen und diskriminieren, aber nicht mit dem aus dem Sprachgebrauch verschwundenen Mohren, wird stante pede zum Rassisten.

Aber objektive Sachverhalte haben längst gegenüber subjektiven Empfindlichkeiten ausgespielt. Ob diese auf Ignoranz und Mangel an Geschichtskenntnissen beruhen, ist dabei irrelevant. Die neuen Gralshüter des Guten und Gerechten glauben sogar, man könne mit dem Verbot des Wortes Rasse den Rassismus aus der Welt schaffen, ja sogar Missstände und Ungerechtigkeit durch deren Tabuisierung beseitigen. Selbstredend, dass da Symbole, Begriffe und Demonstrationen den Vorrang vor den Mühen realer Sozial- und Gesellschaftspolitik haben .

… ›semper et unique‹

Die totalitäre Moral der neuen Inquisition kennt weder räumliche noch zeitliche Grenzen, sie gilt semper et ubique. Wird Kant, der in vielem auch den Vorurteilen seiner Zeit verhaftet war, aufgrund der in seiner ›Vorlesung über physische Geographie‹ geäußerten Rangordnung der ›Rassen‹ vom Weißen oben bis abwärts zum ›N…‹ zum rassistischen Paria erklärt? Oder wird er nicht vielmehr als Verfechter der universalistischen Idee der gleichen Menschenwürde gefeiert, ohne die unsere heutigen Debatten und Emanzipationsbestrebungen undenkbar wären? Ist Kant also mehr Schuldiger als Aufklärer, ein von den Straßen, Plätzen, ja aus unserer kollektiven Erinnerung zu tilgender moralischer Unhold? Mit den anmaßenden, Zeit und Ort ignorierenden Maßstäben der neuen moralischen Blockwarte ließe sich die Proskriptionsliste verfemter Persönlichkeiten wohl endlos fortsetzen, nicht zuletzt auch, um eine fortgesetzte Medienaufmerksamkeit zu gewährleisten.

… gefährdete Käfer

So rigide sich die totalitäre Moral gibt, so alternativlos ist sie auch. Die Publizistin und Philosophin Isolde Charim legt dies in ihrem Artikel ›Die Dialektik der cancel culture‹ so dar: ›Statt zu überzeugen, will sie den Gegner strafen. Statt mit ihm zu debattieren, will sie ihn isolieren, stigmatisieren. … Statt auf Vernunft setzt sie auf Moral und Empörung.‹ Schuldig (und zu bestrafen) ist da, wer anderer Meinung ist. In einer Welt, in der jede gesellschaftliche und persönliche Angelegenheit zur moralischen Frage verklärt wird, ist auch schuldig, wer den Müll nicht entsorgt, nicht um die Erhaltung einer gefährdeten Käfer-Art kämpft, die Zuwanderung auch von ihrem Nutzen für die Zuwanderungsländer abhängig macht oder gar Churchill als Verteidiger von Europas Freiheit verehrt. Cancel culture ist autoritär und undemokratisch. Sie verordnet ›ihren‹ gesellschaftlichen Konsens. Die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit von Persönlichkeiten und Geschichte lehnt sie ebenso ab wie die für ein demokratisches Gemeinwesen unabdingbare Diskurs- und Streitkultur. Indem sie behauptet, dass Diskriminierung nur von Betroffenen selbst definiert werden darf, maßt sie sich die alleinige Definitionshoheit an und nutzt diese zur Durchsetzung ihrer gruppenspezifischen Interessen. Dass sich dabei jede Form von Satire von selbst verbietet, siehe den Fall Lisa Eckhart, versteht sich von selbst. Ist Satire doch eine Kunstform, mit der Personen, Ereignisse oder Zustände kritisiert, verspottet oder angeprangert werden. Typische Stilmittel der Satire sind die Übertreibung als Überhöhung oder die Untertreibung als bewusste Bagatellisierung bis ins Lächerliche oder Absurde.

… Dekontaminierung, nicht Kontaminierung

Nun soll Adolf Hitlers Geburtshaus zu einer Polizeiwache umgebaut und durch einen Rückbau ins Barocke ›neutralisiert‹ werden: So soll jede Erinnerung in Braunau an den Diktator und Massenmörder ausgelöscht, dekontaminiert werden, nicht wieder erkennbar gemacht werden. Um aus dem moralisch ›schlechten‹ ein ›gutes‹ Bauwerk zu machen, sollte auch die vor dem Haus installierte Gedenktafel mit der Inschrift ›Für Frieden, Freiheit und Demokratie. Nie wieder Faschismus. Millionen Tote mahnen‹ entsorgt werden und ihre museale(letzte)Ruhestätte im Wiener Haus der Geschichte finden. Ein Plan, der nach vielseitigen Protesten abgeblasen wurde. An einer Konfrontation mit Geschichte, ihren Verbrechern und Verbrechen, ihren Verwerfungen scheint kein Interesse mehr zu bestehen. Vielleicht kann man einer zart besaiteten und gleichzeitig moralisch dauerempörten Gesellschaft nicht mehr zumuten als die Annullierung unangenehmer Erinnerungen. Wer jedoch glaubt, Geschichte könne ungeschehen gemacht werden, wenn man ihre Zeugnisse, ob Häuser, Denkmäler oder Namen verschwinden lässt, täuscht sich. Gefragt ist nicht Dekontaminierung, sondern Kontaminierung. Orte wie das Hitlerhaus müssen Menetekel sein, Orte der Verstörung und des Mahnens, die die Monstrositäten unserer Geschichte wachhalten und jede Form der Glorifizierung unmöglich machen. Was auch immer mit dem Haus geschieht, Adolf Hitler wird damit weder aus der Welt noch aus der Geschichte verschwinden, weder in Braunau noch sonst wo.

… Selbstentzündung, Selbsterlösung

›Fahrenheit 451‹ von Ray Bradbury beschreibt eine dystopische Welt, in der die Arbeit des Feuerwehrmannes Guy Montag darin besteht, Bücher zu verbrennen, anstatt Brände zu löschen. Kapitän Beatty, Montags Vorgesetzter, rechtfertigt dem zunehmend zweifelnden Montag gegenüber die Bücherverbrennung als Glücksrettung der Gesellschaft, denn das Lesen von Bücher führe zu asozialem Verhalten, zur Destabilierung der Gesellschaft und zu emotionalen Problemen. Nur durch deren Beseitigung und Bestrafung derjenigen, die sie trotz Verbot noch lesen, könne Ruhe und Frieden für die Gesellschaft erzielt werden. So mögen, erklärt Beatty, farbige Leute ›Little Black Sambo‹ nicht. Weiße Menschen hingegen fühlen sich nicht gut bei ›Onkel Toms Hütte‹ und Rauchern macht ein Buch über Tabak und Krebs der Lunge Angst. Seine Devise zur Glücksrettung lautet daher in einer Gesellschaft, in der selbstständiges Denken als gefährlich gilt: ›Verbrennen‹.

In Fahrenheit 451 wurde die Verbannung und Zerstörung von Literatur, Kunst und Kultur vorerst nicht von oben her verordnet oder gar erzwungen. Sie entstand sukzessive durch eine ständig wachsende gesellschaftliche Ablehnung von abweichenden und kritischen Meinungen, von Dialektik und Intellektualität.

So entstand eine zunehmend totalitäre Gesellschaft, basierend auf einer mit brutaler Gewalt durchgesetzten staatlichen Zensur, eine vordergründig ideale Welt, in der alle Bürger intellektuell gleichstellt sind und sich keine Minderheit diskriminiert fühlt. Die Expansion des ›totalitären Moralismus‹ in alle Lebensbereiche ist auch Folge einer Identitätspolitik, die Anliegen kleinster Gruppen in unverrückbare Minderheitenrechte verwandelt, hinter die auch demokratisch legitimierte Anliegen der Mehrheitsgesellschaft selbstverständlich zurücktreten müssen.

… House of Cards

Dass die Rede- und Meinungsfreiheit als wesentliche demokratische Grundrechte und der Rechtsstaat durch die cancel culture mit Füssen getreten werden, nehmen die politisch Korrekten und dauerempörten Inquisitoren gerne in Kauf. In ihrer moralinsauren Welt haben Kritik, Dialektik oder gar Ironie keinen Platz mehr, die Verwerfungen unserer Geschichte, ja die Zerrissenheit und Mehrdeutigkeit von Persönlichkeiten, ja unsere Kulturgeschichte und kulturelle Identität werden gleich mit unter Verbot gestellt. Der moraltrunkene Furor macht nicht bei Denkmälern, Büchern, Straßennamen und Kunstwerken halt, die neue Inquisition sucht sich ihre Häretiker auch und im Besonderen in der Welt der Kunst und Kultur. Geradezu selbstverständlich werden heute Boykott und Rufmord in der Kunstwelt (›cancel culture‹) als neue moralische Strafen verhängt.

Die scharfzüngige Kabarettistin Lisa Eckhart wird wegen mutmaßlicher Drohungen aus Angst vor eskalierenden Protesten wegen angeblicher antisemitischer beziehungsweise generell Minderheiten verletzender Äußerungen von einem Hamburger Literaturfestival ausgeladen. Hier scheint es schon zu genügen, der Künstlerin das Etikett ›umstritten‹ anzuhängen, um ihre Arbeit prophylaktisch von der Öffentlichkeit fernzuhalten. Wenn die Ausladung aus Angst vor einem gewaltbereiten Mob geschah, dann muss man sich um die Freiheit der Kunst in Deutschland ernste Sorgen machen. War sie jedoch nur eine Ausrede eines um Harmonie und politische Korrektheit bemühten Veranstalters, so ist dies nichts anderes als eine feig verbrämte Zensur.

Kevin Spacey wird aus ›House of Cards‹-Folgen herausgeschnitten und gestrichen. In Museen werden Kunstwerke von Kunstgrößen wie Balthus abgehängt, da Sie Gedanken an Pädophilie wecken könnten. Die Entfernung des auf der Whitney Biennal gezeigten Werkes ›Open basket‹ der weißen Künstlerin Dana Schutz wurde mit dem Argument gefordert, dass die Darstellung des Leids der Schwarzen durch eine Weiße ja nur Ausbeutung sein könne, sich daher von selbst verbiete. Der moralische Skandal wird zur neuen Waffe gegen die Freiheit der Kunst. Die Person des Künstlers und sein Leben wird zum maßgeblichen Maßstab der Beurteilung von Kunst.

Künstler müssen keine Heilige sein, oder die gute Tat macht noch keine Kunst

Würde man heutige Maßstäbe an die Helden der Moderne anlegen, müsste man auch Pablo Picasso aus den Museen verbannen oder zumindest seine Werke mit einer Warntafel versehen, galt das Kunstgenie doch als Sexmaniak und Sadist, einer, der seine vielzähligen Frauen und Geliebten quälte und manche in den Wahnsinn und Selbstmord trieb.

Um nicht missverstanden zu werden, Künstler sind keine über Gesetzen stehende Halbgötter, aber sie taugen auch nicht zu Heiligen einer Gesellschaft, die ihr Gutmenschsein von der korrekten Müllentsorgung nun auch auf eine ethisch korrekte Kunst ausdehnt und sämtliche gesellschaftlich ungelösten Probleme an die Kunst delegiert. Herausragende Kunst entsteht jedoch weder in moralischen Anstalten noch in Wohlfühloasen für Moralisten, geht es doch um Extremes und Existentielles, um Aufbegehren und Wahrheitssuche. Politische Korrektheit, der Dienst an der guten Sache, gutes Benehmen und einwandfreier Lebenswandel können kein Ersatz für künstlerische Vision, Radikalität und Kritik sein.

Wer in einer dem Zeitgeist angepassten McCarthy-haften Gesinnungskontrolle und im ›totalitären Moralismus‹ Menschen und Kunst leichtfertig und selbstgerecht in ›gut‹ und ›böse‹ sortiert, bekämpft nicht nur die Meinungsfreiheit und Freiheit der Kunst, er verurteilt die Neugierigen und fördert ein System gleichdenkender Langweiler. Wer Kunst, Künstler und Künstlerinnen, die sich nicht mit den neuen moralischen Leitlinien und Empfindlichkeiten einer politisch korrekten Gesellschaft gemein machen, unter reaktionären Generalverdacht stellt und mit Boykott, Rufmord und Zensurforderungen bekämpft, erklärt die Kunst selbst zum nicht tolerierbaren Skandal.

Waren es vor allem konservative Kreise, die zeitgenössische Kunst und ihre Radikalität als verwerfliche Tabubrüche denunzierten, so ist es heute eine Koalition aus ironiefreien Moralisten, lust- und kunstfeindlichen Puritanern und fanatischen Weltverbesserern, die Kunst nur mehr im Dienste der von ihnen definierten guten Sache akzeptieren. Was sich nicht dem Ziel der globalen Weltverbesserung unterwirft, ist für sie Stein ihres Anstoßes und Hasses.

Doch gute Kunst muss frei, radikal und kompromisslos sein; sie soll Debatten auslösen, Gegenmeinungen provozieren, sie kann, ja muss auch immer wieder skandalös sein. Politisch korrekt und moralisch muss sie nicht sein. Was heute im Namen der political correctness den Boykott von Künstlern und Kunstwerken als Verbesserung der Welt und Sieg der Moral gefeiert wird, erinnert fatal an totalitäre und dunkle Zeiten der Bücherverbrennung und Berufsverbote.

Es ist Zeit, dass sich auch die Kunstwelt gegen jede Form von Intoleranz zu wehren beginnt, egal, ob sie von rechten Rassisten oder von den neuen Inquisitoren kommt.