Für das Archaische in uns

Dr. Gerald A. Matt / Toni Innauer

Für das Archaische in uns

Dr. Gerald A. Matt / Toni Innauer

Sie haben gerade ein neues Buch herausgebracht mit dem Titel ›Die 12 Tiroler — für Körper und Seele‹, ein Buch, von dem Sie sagen, es sei im Schlaf entstanden. Es geht aber um Bewegung. Was haben Schlaf und Bewegung miteinander zu tun?

Ganz einfach, wenn man sich viel bewegt, schläft man gut. Das kennt man schon von den Kindern. Bewegung ist Lebensrhythmus, Körperlichkeit ist der Träger unserer Identität. Mein Buch ist mein natürlich-augenzwinkernder Erinnerungsruf daran.

Da übt man mit Tieren.

Ja, ›Die 12 Tiroler‹ sind Tierübungen vom Rothirsch bis zur Bachforelle, die beispielsweise alle im Alpenzoo in Innsbruck — wo die Buchpräsentation stattfand — wie in einer Art Arche Noah leben. Die Übungen im Buch beziehen sich alle auf Tierbewegungen, sie stehen dafür, dass wir Lebewesen sind, für das Archaische in uns. Wenn wir das überheblich verdrängen und nur mehr im Kopf oder im digitalisierten Raum leben, sägen wir munter am eigenen biologischen Ast und erhalten die Quittung in Form zivilisatorischer Beschwerden und Krankheiten.

Schon die Römer wussten: ›Mens sana in corpore sano‹. Wie wichtig ist das Zusammenspiel von Körper und Geist gerade für Spitzensportler?

Heute weiß man aus Hirnforschung und Bewegungslehre, dass die Physiologie das Fundament nicht nur unserer Bewegungsfähigkeit, sondern auch unseres Denkens, von der geistigen Leistungsfähigkeit bis hin zu unserer Kreativität ist. Im Spitzensport gilt das extrem. Körperliche Kraft, Ausdauer und Beweglichkeit sind die Basis für Konzentration, geistige Schärfe und Durchhaltevermögen.

Die Corona-Pandemie hat gewaltige negative Auswirkungen auf unser Leben. Sie sehen darin auch eine Chance.

Ich will da nichts verklären. Aber ja, es wirft uns auf uns selber zurück, gibt uns die Chance, Gewohnheiten zu überdenken, Beziehungen intensiver zu leben, das Private gegenüber der Karriere neu zu bewerten, Warten und Einschränkung zu üben und sich auch an Kleinigkeiten wieder zu erfreuen. Die Welt wurde langsamer und leiser. Gerade Loyalität, Lokalität, Zusammenhalt und Verantwortungsgefühl für den Anderen als wesentliche Faktoren unserer Kultur gewinnen eine tiefe Bedeutung, wo oft nur noch falsch verstandene Freiheit und Narzissmus blühten.

Gilt das auch für den Sport, der, wenn Sie nur an die Streif denken, zunehmend zum Accessoire von Spektakel und Party geworden ist?

Zumindest eine Chance, die dröhnende Beschallung mit Schwachsinnsmusik und grölendes Partyvolk auf ein erträgliches Maß zu dämpfen und wieder den Sport in den Fokus zu bringen. Wobei bei manchem Skispringen die Boxen auch ohne Zuschauer voll ausbelastet wurden, weil man offenbar meinte, dass die Lautstärke für Bedeutung steht …

Wie kamen Sie zum Skisport und zum Skispringen?

Mein Vater arbeitete für die Seilbahn in Bezau und meine Mutter betrieb das Gasthaus auf der Mittelstation. Dadurch konnten wir gratis Skifahrern und waren sofort nach der Schule auf der Piste. Das mit dem Skispringen war reiner Zufall. Eigentlich begann ich als Alpiner mit Sla-lom und Riesenslalom und war schon im Landeskader. Ich bin aber gern als Mutprobe gesprungen. Mit elf Jahren verblüffte ich ein paar Kollegen aus der Hauptschule, die mit dem Skispringen begonnen hatten, indem ich auf Anhieb um einige Meter weiter sprang. Dann kam die Landesmeisterschaft, bei der ich — mit Alpinski, ich hatte nichts anderes — Landesmeister mit zweimal Schanzenrekord wurde. Das war der Beginn meiner Karriere.

Sie waren einer der Stars des Skispringer Wunderteams der 1970er Jahre unter Baldur Preiml. Österreich hat mit den Superadlern von Karl Schnabl über Alois Lipburger und Armin Kogler, Hubert Neuper über zehn Jahre das Skispringen beherrscht. Was machte diese Dominanz aus?

Da kam viel zusammen, das neu gegründete Skigymnasium Stams und mit Preiml ein Supertrainer, Akademiker und Medaillengewinner, sehr erfahren und sehr interessiert am mentalen Bereich, ein Experimentierer, der die talentiertesten Leute aus ganz Österreich zusammenbrachte und geistig und körperlich forderte und förderte.

Sie waren der Star des Wunderteams: 1976 auf Rang 1 in der Weltrangliste. In Oberstdorf Weltrekorde im Skifliegen (174 und 176 Meter) und vier Jahre später, 1980 in Lake Placid, der Olympiasieg. Was war persönlich ihr größter Triumph?

Zu der Zeit war es ein grandioser Erfolg, wenn man — ohne Sturzhelm und ohne Sicherheitsbindung — gesund in die Welt-spitze kam. Das Aufregendste, ja Außergewöhnlichste vielleicht in meinem Leben war jedoch, dass ich fliegen, ja schweben gelernt hatte. Weltrekord und Olympiasieg waren dann die Erfüllung meiner Kindheitsträume.

2010 kam Ihr Buch ›Am Puls des Erfolges‹. Darin geht es Ihnen nicht nur um Siege, sondern auch darum, wie man aus Nieder-lagen Kraft schöpft und lernt.

Erfolge sind eigentlich die Ausnahme. Für einen Sportler sind Niederlagen Lernprozesse. Man muss experimentieren, auch Holzwege gehen, da ist auch viel Frustration. Meistens ist man auf der Suche nach und im Kampf mit einer wetterwendischen Hochform und lernt zu akzeptieren, dass Leistung und Erfolg mit Einsatz, Fleiß und nicht nur mit Talent zusammenhängen. Aus Niederlagen lernt man viel über die Beschaffenheit der Wirklichkeit und dass nicht alles in Erfüllung gehen muss, weil man es sich wünscht. Man lernt Spielregeln und Fairness und Respekt vor der Leistung anderer. Gesellschaft und Politik könnten einiges vom Sport lernen.

Im Sport ist nicht alles kalkulierbar, da spielt auch das Pech eine große Rolle, vor allem in Form von Verletzungen. In St. Moritz sind Sie gestürzt, verletzten sich schwer und beendeten sehr jung mit 22 Jahren Ihre Karriere. Wann weiß man, dass man aufhören muss?

Das kommt wie aus der Pistole, am 5. Dezember 1980. Ich habe es sofort gespürt, in dem Moment, als meine Bänder und Knochen rissen, riss auch etwas in mir. Ich bin bei minus 25 Grad im Auslauf gelegen. Mein Freund Alois Lipburger hob mich mit Tränen in den Augen auf und ich sagte ihm: ›Ich höre auf.‹ Ich hatte schon vier Operationen hinter mir, von denen ich mich mit extrem viel Energie und auch Kraft im Kopf in den Sport zurückgekämpft hatte. Dann kamen gottseidank das Studium und neue Interessen.

Sie haben sich später sehr für die Sicherheit und Gesundheit im Skispringen eingesetzt. Wie gefährlich ist Spitzensport? Macht er krank?

Ja, ich kämpfte um sicheres Material, um sichere Bedingungen. Heute ist Springen viel sicherer als zu meiner Zeit. Ein Riesenproblem war auch die damals verbreitete Magersucht unter den Springern. Warum? Leicht fliegt weiter. Es gab Athleten und Lobbys, die davon profitierten und keine Änderungen wünschten. Viele Nationen haben sich lange gegen die Einführung eines Mindestgewichts gewehrt. Das gelang uns schließlich doch mit der Einführung eines Body-Mass-Indexes. Im Sport wie in der Wirtschaft hat der Einsatz für faire Spielregeln eine immense Bedeutung. Der ewige Kampf gegen Doping zum Schutz sauberer Sportler*innen ist ein Paradebeispiel dafür. In den ›12 Tirolern‹ streife ich auch das Thema Übergewicht und falsche Ernährung. Volkswirtschaftlich und gesundheitlich wichtige Lösungen und Ansätze werden durch mächtige Lobbys vereitelt.

Der Titel eines Buches von Ihnen heißt ›Der kritische Punkt‹, gibt es auch beim Springen einen kritischen Punkt und hatten Sie jemals Angst vor dem Sprung?

Der wirklich kritische Punkt ist der Absprung. Der ist so schwer zu erwischen. Da geht es darum, in Balance zu bleiben, mit voller Kraft, Entschlossenheit, pünktlich und gleichzeitig mit Gefühl zu springen, optimal in die Flugphase zu kommen. Mut bedeutet nicht, keine Angst zu haben, sondern sich von Angst nicht das Verhalten diktieren zu lassen. Die Fähigkeit, mit Emotionen umgehen zu können, zählt. Man spürt, dass man der Angst etwas entgegensetzen kann, nämlich Mut, Können, Kompetenz, die man sich über Jahre erarbeitet hat, das Wissen, das schaffe ich, wenn ich mich JETZT anstrenge. Beim Sprung hatte ich nicht Angst vor dem Sturz, sondern davor, dass es nicht weit genug gehen könnte.

Welche charakterlichen, geistigen und körperlichen Eigenschaften muss ein Spitzensportler haben?

Letztlich ist es die Persönlichkeit, die Frustrationstoleranz, der unbedingte Wille, die motorische Intelligenz und Lern- und Entwicklungsfähigkeit, die den Spitzensportler ausmachen. Man braucht aber auch Coachbarkeit, weil man nicht alles selbst erfinden kann, was den Umgang mit Technik und Material angeht. Man muss letztlich offen sein, neugierig sein, auch für das, was andere schon vor einem herausgearbeitet haben.

Ab 1981 studierten Sie Sport, Philosophie und Psychologie. ›Das Studium war meine Rettung‹, was meinten Sie damit?

Es war meine Rettung, insgeheim wollte ich weiter springen, aber konnte nicht mehr. Psychologie und Philosophie erlaubten mir, die gemachten Erfahrungen und meine Rolle zu analysieren, einen geistigen Abstand und Freiraum zu gewinnen und mich neu zu entdecken, meine Persönlichkeit und mein Repertoire für die Zukunft als Trainer entscheidend zu erweitern.

Sie waren ja auch als Trainer sehr erfolgreich, was war Ihr Geheimnis?

Praktische Erfahrung, gemischt mit theoretischer Expertise, zudem habe ich innerlich noch gebrannt, weil meine Karriere zu früh zu Ende war, ich wollte selbst noch am liebsten springen. Über meine Springer konnte ich dann — vom Trainerturm aus — vieles von dem, was ich selber noch gerne verwirklicht hätte, gemeinsam mit den mir anvertrauten Sportlern umsetzen und ausleben.

Ein Geheimnis Ihres Erfolges als Trainer war auch der V-Stil.

Der müsste eigentlich Jan-Bokloev-Stil heißen, der aus Jux und Tollerei eine Grätsche in der Luft machte und entdeckte, dass das überraschenderweise stabil ist und er vor allem weiter springen kann. Zuerst haben alle gelacht, dann gestaunt und schließlich versucht, es über das Reglement der Haltungsnoten zu verbieten. Als Trainer setzte ich dann voll darauf, und wir versuchten, mit dem gesamten Nationalteam, den neuen Stil zu lernen und entlang von Versuch und Irrtum zu perfektionieren. Weil wir vor allen anderen den Mut zur Umstellung hatten, waren wir in der Olympiasaison 1992 einen Riesenschritt voraus. Fünf von sieben möglichen Medaillen war die Bilanz. Das Skispringen, vor allem das Ski-Fliegen, ist durch den V-Stil nicht nur wirkungsvoller, sondern durch die Geschwindigkeitsreduktion sogar viel sicherer geworden.

Haben Sie manchmal noch Entzugserscheinungen? Fehlt ihnen das Springen?

Nicht mehr. Meine Träume zeigen das deutlich. Träumte ich viele Jahre noch, wie ich auf die Schanze wollte und ich meine Skier, den Anzug, den Helm oder die Startnummer vergessen hatte, sagte mir kürzlich ein Traum, dass ich es offenbar endgültig abgeschlossen habe: Da erscheint Heinz Kuttin, einer der Weltmeister, den ich trainiert habe. Ihm fehlt ein Teil seiner Bindung und ich sage ihm: ›Nimm’s bitte aus meinem Skisack, ich brauche es nicht mehr.‹

Vielen Dank für das Gespräch!