Erkenne dich selbst —
dann durchschaust du auch jeden Politiker

Dr. Gerald A. Matt / Michael Köhlmeier

Erkenne dich selbst — dann durchschaust du auch jeden Politiker

Dr. Gerald A. Matt / Michael Köhlmeier

Nach dem Rücktritt von Kurz stellt sich wieder einmal die Frage nach dem Verhältnis von Moral und Politik. Gladstone sagte dazu: ›Was moralisch falsch ist, kann nicht politisch richtig sein.‹ Henry A. Kissinger hingegen hielt einmal zynisch fest: ›Das Illegale erledigen wir sofort, das Verfassungswidrige dauert etwas länger.‹ Sind Politik und Moral untrennbar verbunden oder nicht vereinbare Gegensätze?

Die Moralisierung von Politik, die reibungslose ›Gleichschaltung‹ von Politik und Moral, würde nur funktionieren, wenn man etwas Unausweichliches unterschlüge: die Ironie nämlich, mit der allein die Einzelnen, ›der Politiker, die Politikerin‹, die allzu menschlichen Idiotien ertragen können, die in der Menge verankert sind. Für die völlige Verblödung eines noch kleinen Teils der Bevölkerung gibt es heutzutage hin und wieder sogar statistische Größen: der Anstieg des Konsums eines Entwurmungsmittels, das ein rechtsextremer Politiker gegen Covid 19 empfohlen hat. Wenn der Nachfolger von Kurz mit pathetischer Erbostheit dem rechten Politiker allein die Schuld zuschreibt, macht er schlicht die Rechnung ohne den Wirt. Diese Idiotien und ebenso das Vernünftige, das in den Alltagshandlungen und Alltagshändeln zum Ausdruck kommt, muss die Politik von ihrer Utopie her beherrschen, ›im Griff haben‹ — sie muss mit Unterstützung und gegen Widerstände eine Strategie, wie die blöde Phrase lautet, ›umsetzen‹.

Eine Strategie …

Die Strategie muss nicht vereinheitlichen, sie kann in sich differenziert sein, viele Facetten haben, aber man muss ihr einen Willen, eine Autorität, eine Klarheit anmerken. Sonst fällt Politik auseinander und ist keine mehr. Die Ironie, die sich nicht nur politisch empfiehlt, sondern überhaupt im Umgang mit Menschen — dort, wo die Liebe sich nur als Illusion hält —, hat die Neigung, in Zynismus umzukippen, dessen spießige Äußerung die Verachtung aller Andersdenkenden (nur weil sie anders denken) ist. Besonders interessant bei den Türkisen ist die überlieferte Titulierung einer zwielichtigen Figur, dass diese ›zur ›Familie gehöre‹. Die Rationalität von zynischen Politikern besteht darin, nicht erwischt zu werden. Ihre Enttarnung bedeutet meistens, dass sie ›auffliegen‹, dass ihre Attitüde, über jeden Zweifel erhaben zu sein, wie nichts verschwindet. Aber Politik, auch die beste, enthält eine grundsätzliche Unmoral, gegen die allerdings der Protest eingebürgert ist und zugleich nur selten nützt: Bei schweren gesellschaftlichen Konflikten, gibt es Menschen, die ganz und gar von diesen Konflikten betroffen sind — und andere, die von ihnen sogar profitieren. Klassisches Beispiel ist der Krieg: Während in Vietnam Menschen starben, hatte es Kissinger daheim sehr schön. Er inszenierte sich staatsmännisch. Im Konzept von Politik versus Moral ist ein grundsätzlicher Konflikt inbegriffen, und zwar als Aporie der Conditio Humana: Es kann etwas moralisch richtig sein und politisch falsch — wie damit ohne Zynismus oder wenigstens Ironie zurechtkommen?

Sind die gegenwärtige Empörung und der Rücktritt von Kurz ein Ausdruck der Selbstreinigungskräfte unseres politischen Systems oder liegt in der Empörung über sein Handeln nicht auch ein hohes Maß an Scheinheiligkeit? Karl Kraus äußerte sich 1899 über sein Heimatland: ›Wird in Österreich ein Verfassungsbruch begangen, so gähnt die Bevölkerung.‹ Peter Sloterdijk resignatives Statement hierzu lautet: ›Das viel zitierte Volk hat in puncto Zynismus von den Mächtigen nichts mehr zu lernen. Es will sie zynisch haben, damit es sich mit ihnen auf einer Ebene fühlt. Vornehmheit trennt, Schweinerei verbindet.‹ Steht einem Comeback von Kurz also nichts entgegen?

Die ›flächendeckenden‹ Empörungen sind vor allem sich moralisch gerierende Reflexe, die der Abreaktion dienen. Das ist nicht nur schlecht, die Ventile sorgen dafür, dass die Chose nicht unkontrollierbar in die Luft fliegt. Das Ausagieren von politisch ungelösten Konflikten arbeitet den österreichischen Medien zu, die — außer in wenigen Ausnahmefällen — genau dieser Konstellation der folgenlosen Selbsterhöhung, des eitlen Sich-Aufpudelns, dienen.

Folgenlose Selbsterhöhung?

Hinter dieser monotonen Faszination von einem immer wiederkehrenden Tatbestand steckt auch das segensreiche Prinzip der Arbeitsersparnis: Wenn man ein Thema am Kochen hält, braucht man kein anderes zu finden, und das Interpretationsmonopol von Filzmaier und einigen anderen aus der Politiktheoriebranche ist erbärmlich: vollkommen risikoloser ›Aufkläricht‹, der manchmal sogar die Erlebniswelten des Staatsbürgers erweitert: War das lustig, als Armin Wolf in der ZiB 2 den Politologen aus Krems unterm ORF-Schreibtisch ortete, wo der nächtigen durfte, um keinen seiner erläuternden Einsätze zu verpassen. Auch die ›Kronen-Zeitung‹ beliefert Filzmaier mit seiner Expertise — es war Gerd Bacher mit seinem Hass auf den Boulevard, dem er selbst entstammte, der vor Augen führte, welche Voraussetzung in Österreich die sogenannte ›Meinungsfreiheit‹ hat: den Gegensatz nämlich von ORF und ›Krone‹. Tja, schon ›das Volk‹, also der Herr Karl bei Merz/Qualtinger — sie wussten genau, dass ein Politiker nur — wie der Herr Karl selbst — ein Mensch ist, der sich für das Arschloch halten muss, das er tatsächlich ist. Erkenne dich selbst, dann durchschaust du auch jeden Politiker. Aber sowas von durchschaubar, wie der Zeitungsboss Fellner ist auf dieser Welt selten: Der Mann schwört Stein und Bein auf seine Lügen, aber man braucht ihm nur vom Band vorzuspielen, was Fellner wirklich sagte. Auf die Frage, ob Kurz wiederkommt, hat Adele Neuhauser geantwortet: ›Ich will nicht, dass er wiederkommt.‹

Inwieweit sind Politiker wie Kurz, Orbán, Trump, Söder nur die Symptome der Verfasstheit unserer gegenwärtigen Gesellschaft? Anders gefragt: Ist Populismus Gefahr für die Demokratie oder nützliches Korrektiv gegen Volksferne, Probleme ausblendende Politik?

Orbán und Trump kann man mit Kurz und Söder nicht vergleichen: Die letzten beiden sind Karrieristen, wobei Söder in der merkwürdigen Koalition von CDU/CSU — wie einst Franz Josef Strauß — am Ende stets den Kürzeren zu ziehen scheint. Vielleicht hat das den merkwürdigen Grund, dass der Bayer schon in Köln am Rhein ›nicht zur Familie gehört‹ und sich daher frech — und so oft und so weit es geht — über die Familie stellen muss, um überhaupt bemerkt zu werden. Wenn das nichts bringt, bleibt er vollmundig ›außen vor‹. Kurz ist darin ein typischer Österreicher, dass er die aus der ›Verhaiderung‹ (Sigrid Löffler) hervorgehenden Politikelemente um das Radikale an ihnen verkürzt, sodass niemals ›unsere‹ Kinder fragen müssen: ›Großvater, was hast du damals gemacht?‹

Und Orbán?

Orbán hat ein ganz anderes Format: Während Söder und Kurz eine Normalität suggerieren, existiert für Orbán — zur Rechtfertigung seiner Politik — in der Hauptsache der Ausnahmezustand, dessen Überborden allein durch den eigenen Rechtsextremismus zu verhindern ist. Orbán hat ein neofaschistisches mitteleuropäisches Modell für die Zukunft: Alleinstellung der Politik, das heißt Regieren ohne Medien, die direkt abhängig von der herrschenden Politik gemacht werden, also nicht zuletzt von Orbán persönlich (oder von irgendeinem Diktator, der sich gewiss finden wird). Das Recht muss von der Politik ausgehen (und nicht umgekehrt dem Recht unterstehen) — das ist ein Kernsatz des derzeitigen Rechtsextremismus. So lange es geht, wird — mit dem Bundesgenossen Polen — die EU am Schmäh gehalten, bei der man absahnt, was ein Diktator und seine Handlager so brauchen. Der Antisemitismus wird vom Sachwalter des Christlichen Abendlandes als Staatsreligion gegen eine Person, gegen Soros, wieder eingeführt und überhaupt herrscht eine von Korruption und verordneter Unmenschlichkeit flirrende Atmosphäre. Wenn ›das Volk‹ Orbán demnächst durch eine Wahl nicht los wird, wird es ihn und sein System nie wieder los. Trump hat das neofaschistische Modell für jenseits des Ozeans. Ich nenn’s halt ›neofaschistisch‹ für einen ersten, zu korrigierenden Ansatz der Analyse: Trump kitzelt den Hass der Massen hervor, verschärft die sozialen Unvereinbarkeiten, motiviert diejenigen, die eigentlich seine Feinde sein müssten, zu eifernder Anhängerschaft, die gegen ihre ureigensten Interessen die amerikanische Wirtschaftsordnung auf der Straße auch mit der Waffe verteidigen. Ja, Trump persönlich ist wiederum ein Beweis für die banale Psychiaterweisheit, dass ein Psychopath, auch wenn er blöd ist, hochintelligent sein kann, wenn’s um seinen Vorteil geht: America first!

Apropos Moral und Politik auf europäischer Ebene. Spielt bei der Beurteilung osteuropäischer Staaten nicht auch ein wenig Überheblichkeit und Arroganz eine Rolle?

Ich glaube, dass das Argument vom ›moralischen Imperialismus‹, dem ›die Anderen‹ anhängen, dem schlechten Gewissen entstammt: Was die Politik betrifft, weiß kaum einer, welche die richtige wäre. Was aber das Gewissen betrifft, hat jeder eine Ahnung, was gut, schlecht oder böse ist. Die Haudegen des zeitgemäßen Neofaschismus in Polen und in Ungarn machen viel Lärm, damit man die sagenhafte Stimme des Gewissens überhören kann. Der Trick ist immer noch die einfache Täter/Opfer Umkehr: Nicht was man den Gewissenlosen vorwirft, trifft zu. Das eigentlich Verwerfliche ist der Vorwurf selbst, den man ausgerecht diesen ›Unschuldslamperln‹ in Polen und Ungarn macht. Klar, sie möchten gemein sein, Schwein sein, vor allem in der Flüchtlingspolitik, aber sie möchten ›nicht am Pranger stehen‹. Dass ›die Anderen‹ auch Heuchler sind, ist irrelevant. Die Irrelevanz hängt teilweise mit dem Charakter der Moral zusammen: Moral gilt ›kontrafaktisch‹: Selbst wenn ich mich nicht daran halte (und gar von anderen Moral verlange), kann ein moralisches Gebot richtig und sogar notwendig sein. Verständnis fordern, um ja nicht arrogant zu wirken, halte ich in vielen Fällen für pervertierten Realismus: Sie haben ja tatsächlich unter den Russen gelitten. ›DIE ZEIT‹ veröffentlichte eine nicht zuletzt darauf gründende geniale Selbstexkulpation, die polnische Intellektuelle zur Verfügung stellen: Den Polen sei so viel Unrecht geschehen, dass sie in ihrer Weltanschauung auf keinen Fall bezichtigt werden wollen, selber Unrecht zu tun. Das würde ihre Sonderstellung unter den Leidenden der Welt relativieren, was aber schon gar nicht in Frage kommt: ›Die Flüchtlinge nehmen den Polen den Monopolanspruch auf Mitgefühl‹, und das kalte Rechtssystem der EU nimmt ihnen die Chance, sich an den alten (kommunistischen) Eliten zu rächen. Wo Strafe und Genugtuung ausbleiben, dort ist angeblich heutzutage das gute Polen situiert. Sehr schön und tatsächlich beachtenswert ist der Schlusssatz des zitierten Artikels.

Inwiefern?

Nach dem Lob für Merkel, die gegen den intensiven Widerstand ›rechter Politiker‹ unverändert ›tolerant, zurückhaltend und geduldig gegenüber Polen‹ blieb, steht da zu lesen: ›Es wäre gut, wenn auch die nächste Generation von Politikern, die bald Deutschland regieren wird, die kulturellen Besonderheiten Osteuropas verstehen würde.‹ Dafür bin ich auch, wenngleich in der Formulierung die Nationalismus-Falle offensichtlich ist: Eine Regierung wird mit ganz Polen verwechselt, und ich hoffe, dass die nächsten Generationen von Politikern es den hartherzigen Jammerern an der Macht klarlegen, dass Westeuropa verständnisvoll auf der Seite der polnischen Opposition steht. Die tiefsten Kränkungen sind nur psychologisch ein Grund zu werden, wie die Russen einst waren, weil Macht eben so autoritär und nicht anders ausschaut. Die Werte, ja die Werte: Man kann sie wunderbar verlautbaren, ohne sich an sie zu halten. Dann werden aus Werten Worte, die bekanntlich genug gewechselt sind. ›Die Werte‹ geben eine Scheidelinie von Politik und Moral zum Besten: Werte sind nur ein flatus vocis, ein Hauch der Stimme, ein mehr oder weniger nützliches Ideal, wenn keine Macht dahinter steht, um sie durchzusetzen.

Für Max Weber sind vornehmlich drei Qualitäten für einen guten Politiker entscheidend, und zwar Leidenschaft, Verantwortungs-gefühl und Augenmaß. Wenn man an die politischen Skandale der Republik von Androsch über Haider über Strache bis Kurz denkt, worauf basierte ihr Erfolg?

Des großen Max Webers politische Utopie von Augenmaß und Leidenschaft und Verantwortungsgefühl ist bürgerliches Schönreden, umnachtet vom Sollen. Ich weiß, warum Androsch, Haider, Strache und Kurz so erfolgreich waren. Weil sie außer an Leidenschaft weder an Augenmaß noch an Verantwortungsgefühl leiden mussten.

Vielen Dank für das Gespräch!