Nach ›Die Abenteuer des Joel Spazierer‹ nun ein weiterer literarischer Erfolg für dich: ›Zwei Herren am Strand‹. Wie wurde aus dir ein Schriftsteller?
Ich glaube, ich habe mir von Anfang an gar nichts anderes vorstellen können. Kant sagt, die Aufklärung ist der Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit des Menschen, und dieser Ausgang, den kann man sich durchaus als eine Tür vorstellen, und der Schlüssel zu dieser Tür ist ein Buch. So hat das mein Vater argumentiert, der aus einem ganz bäuerlichen Milieu kam. Für ihn war ein Buch etwas Heiliges. Wir haben in allem gespart, nur bei Büchern nicht. Und als ich meinen Eltern gesagt habe, dass ich gerne Schriftsteller werden will, da waren sie glücklich darüber. Die haben sich nicht gefragt, kann man davon leben oder nicht, sondern es kam ihnen wie das Edelste vor, das ein Mensch werden kann — am besten ein Schriftsteller, der historische Romane schreibt, weil mein Vater Historiker war.
Du lebst mittlerweile ja zwischen Vorarlberg und Wien. Wie sehr beschäftigt dich Heimat? Glaubst du, dass das Vorarlbergerisch einen Einfluss hat auf das, was du schreibst oder wie du schreibst?
Das glaube ich wohl. Dass man ein Leben lang aus der Sicht der Peripherie denkt, das kriegt man wahrscheinlich nicht los. Die Selbsteinschätzung der Vorarlberger schwankt, und zwar übergangslos vom absoluten Nullwert hin zur überwertigen Idee. Und das ist eine typische Einschätzung aus der Perspektive der Peripherie, dass man aus der negativen Einstellung dem Zentrum gegenüber sich selber erhöht. Eine der ersten Erfahrungen, die ich gemacht habe, als ich nach Wien gekommen bin, war, dass die Wiener uns gar nicht so sehr hassen, wie wir geglaubt haben, dass das eine reine Einbildung der Vorarlberger ist.
Die Heimatlosigkeit habe ich sehr früh mitbekommen, und zwar nicht am eigenen Leib, sondern an der Sehnsucht und dem Heimweh meiner Großmutter und auch meiner Mutter. Wobei das Heimweh meiner Großmutter nicht stillbar war, weil sie nicht nur Heimweh nach der kleinen Stadt Coburg in Deutschland hatte, sondern auch nach einer anderen Zeit. Ihr Coburg ist mit dem Krieg gestorben. Meine Großmutter hat die ganzen sechzehn Jahre, die sie bei uns war, ihre Wäsche immer in den Koffer gelegt.
Das heißt, sie wäre jederzeit innerhalb einer halben Stunde reisefertig gewesen. Dieses Gefühl, nicht nur nirgends angekommen zu sein, sondern nie mehr irgendwo ankommen zu können, weil sie ihre Heimat verloren hat, das hat mich mit geprägt. Und aufgewachsen bin ich in Hohenems in den 50er/60er-Jahren. Das war so eine zweifelhafte Idylle, nicht mehr Dorf, noch nicht Stadt. Es ist irgendwie gar nichts und alles dazwischen. Aber es gibt nichts Schöneres für Buben, als irgendwo eine Gstetten zu haben.
Es gibt Erzählungen, Romane, Theaterstücke, Libretti, Hörspiele, Drehbücher und mehr von dir. Gibt es etwas, was dir wichtig ist, etwas, das wir nicht primär mit Michael Köhlmeier verbinden?
Neben den Romanen gibt es eine ganz tiefsitzenden Liebe in mir, in der ich aber gleichzeitig sehr empfindlich bin. Das ist die Lyrik. Und weil Lyrik ja auch von der Lyra kommt, ist Lyrik natürlich etwas, das man singt, und ich habe immer gerne gesungen, obwohl ich es nicht kann. Und ich habe mit großer Ambition und mit viel Herzblut Songs geschrieben. Merkwürdigerweise ist es mir nie gelungen, einen Song in Hochdeutsch zu singen. Die meinem Singen angemessene Sprache ist der geschmeidige Vorarlberger Dialekt. Ab Landeck versteht es kein Mensch mehr. Aber das ist egal.
Da gibt es auch noch deine Leidenschaft für Märchen.
Ja, das Interesse für Märchen ist sehr alt, fast wie allen Menschen sind auch mir als Kind Märchen erzählt und vorgelesen worden, besonders die Grimms. Sie sind meines Erachtens unübertroffen, und zwar nicht nur in den Stoffen, die sie auswählen, sondern in der Sprache. Der ganz typische Sound der Brüder Grimm, der vollkommen unsentimental und unpathetisch ist und die unglaublichsten Dinge in einer somnambulen Art und Weise der Geschichten präsentiert. Die Grimmschen haben auf die deutsche Sprache und die deutschen Dichter einen Einfluss ausgeübt, der vielleicht nur mit dem Einfluss Goethes zu vergleichen ist. Die Grundlage allen Erzählens ist das Märchen. Das ›Es war einmal‹, und wir Erzähler haben eine Heilige, die Scheherazade aus Tausendundeine Nacht. Sie muss an der spannendsten Stelle ihrer Geschichte angekommen sein, wenn die Sonne aufgeht. Dann sagt der König, mit dem sie im Bett ist: ›Erzähl weiter‹, und sie sagt: ›Nein, die Sonne ist aufgegangen, du wirst mich jetzt töten.‹ Und er sagt: ›Na gut, eine Nacht schenke ich dir noch, ich möchte wissen, wie die Geschichte ausgeht.‹ Und in der nächsten Nacht muss sie wieder dasselbe machen. Wenn sie zu früh endet und die Geschichte zu Ende erzählt, dann ist er befriedigt in seinem narrativen Bedürfnis, dann haut er ihr den Kopf ab. Sie erzählt um ihr Leben, und wenn sie nur einmal nicht weiß, was Dramaturgie ist, dann ist sie tot. Einen Erzähler, der sich für das nicht interessiert, den kann ich nicht ernst nehmen.
In ›Abendland‹ — deinem Epochenroman zum Zwanzigsten Jahrhundert — erklärt deine Figur Sebastian Lukasser am Grab seiner Geliebten, dass er einmal einen Roman schreiben möchte, in dem alles frei erfunden ist. Gleichzeitig sagt aber Michael Köhlmeier an anderer Stelle: ›Dieser Lukasser ist auf der Suche nach literarisch Verwertbarem. Ich halte Lukasser für erbarmungslos, rücksichtslos und skrupellos.‹
Es ist ein großes Thema, das du da anschneidest. Also die Frage nach dem Erfinden und Finden, von Imagination und Realität für einen Schriftsteller. Mich interessiert in Wirklichkeit die Realität. Aber ich glaube, auch wenn man reale Figuren nimmt, also etwa Winston Churchill oder Charlie Chaplin, dann macht man etwas, was eigentlich unanständig ist. Ich bemächtige mich einer realen Figur, mache aus ihr eine fiktive Figur und erfinde sie neu. Platon hat gesagt, die Schriftsteller müssen aus der Republik gejagt werden. Sie lügen zu viel. Leute, die nichts lesen oder ganz wenig lesen, die fragen mich: Ah, was hast du jetzt da geschrieben? Und wenn ich ihnen sage, das habe ich alles erfunden, dann merke ich, wie ihre Einschätzung mir gegenüber herabsinkt.
Wir sind bei einem wichtigen Thema, der Lüge. Und eine der Maximen von Joel Spazierer ist ja die Lüge. Es ist eigentlich ein Buch über das Abenteuer der Lüge und über die damit verbundene Freiheit. Gehört das Lügen zum Schreiben?
Wenn man das als Lüge bezeichnet, dass jemand etwas schreibt, das erfunden ist, das fiktional ist, dann kann man das so sagen. ›Er lügt wie gedruckt‹, da ist natürlich die uralte Intellektuellenfeindlichkeit, das heißt, wenn es gedruckt ist, ist es gelogen. Ich glaube, dass Zivilisation ohne Lüge nicht möglich ist. Es ist ein letztes Behaupten einer individuellen Freiheit. Ich habe das Recht, nicht die Wahrheit sagen zu müssen. Überall und immer, wenn auf die Wahrheit ganz besonders großer Wert gelegt wird, muss man skeptisch sein. Manès Sperber schreibt in seinem Essay über die Tyrannei: Der Tyrann schaut auf seine Untertanen, und sie verbeugen sich vor ihm, aber er kann ihnen nicht in den Kopf hineinschauen. Er weiß nicht, was sie denken. Und wie kann er das wissen? Indem er ein Gebot aufrichtet und sagt: Du musst unter allen Umständen die Wahrheit sagen. Immanuel Kant hat gesagt: Auch wenn du mit der Lüge deinem Freund das Leben rettest, bist du verpflichtet, die Wahrheit zu sagen. Das ist eine völlig inhumane, verrückte Vorstellung. Aber ich kann letzte Herrschaft über die Menschen nur ausüben, wenn ich auf die absolute Wahrheit bestehe. Die Religionen verstehen das ja sehr gut.
Du hast einmal gesagt: ›Literatur steht in keinem — und zwar in gar keinem — Interesse von irgendetwas und irgendwem. Dort, wo sich Literatur in den Dienst einer Sache stellt, wird sie schlecht.‹ Ein Plädoyer für die Freiheit der Kunst?
Ja, die Literatur ist nicht die Illustration einer Idee oder einer Bewegung, auch wenn die Bewegung noch so wunderbar ist und wenn ich sie noch so sehr unterstütze. Als Bürger bin ich politisch äußerst interessiert. Und mische mich ein. Aber als Schriftsteller meine politische Auffassung in meinen Roman mit einbringen, da schieß ich mich selber ab. Goethe hat es auf den Nenner gebracht: ›Man spürt die Absicht und ist verstimmt.‹ Und diese Verstimmtheit ist das Todesurteil für ein Kunstwerk.