Hat der ominöse Tod Nawalnys Ihren, aber auch den Blick der Welt auf Putin und Putins Regime geändert? Hatte Joe Biden recht, als er sagte: „I think Putin is a killer“?
Der frühe Tod Alexei Nawalnys in sibirischer Lagerhaft hat viele erschüttert und sicher auch das Bild von der Lage in Russland beeinflusst. Ich muss gestehen, dass er mich nicht überrascht hat. Die vom Kreml ausgehende Gewalt hat verschiedene Formen angenommen, gegen Oppositionelle, gegen einfache Menschen, zuoberst natürlich jene des Angriffskrieges gegen die Ukraine.
Sind Haft und Tod Nawalnys und die Niederschlagung des versuchten Marsches Prigoschins inklusive dessen „Flugzeugabsturz“ Zeichen der Schwäche oder Stärke von Putins Herrschaft? Ist der Überfall der Ukraine auch der Versuch, die innere Herrschaft zu sichern?
Eine Meuterei von Söldnern würde wohl auch in demokratischen Staaten niedergeschlagen werden – allerdings würde der Anführer dann vor Gericht gestellt. Die generelle Unterdrückung der Meinungsfreiheit hingegen kann man als Zeichen des Unsicherheitsgefühls eines autoritären Regimes interpretieren, das die eigene Bevölkerung fürchtet. Auch den russischen Überfall auf die Ukraine kann man als den Versuch werten, eine eher demokratisch inspirierte Alternative vor der Haustüre Russlands auszuschalten und dadurch das autoritäre System in Russland zu stabilisieren. Das erscheint mir als die plausibelste Erklärung.
Wie sehen Sie die Entwicklung Russlands seit Gorbatschow, gab es jemals die Chance für eine funktionierende Demokratie und wenn nein, warum nicht?
Eine Chance bestand durchaus, aber die Voraussetzungen waren schlecht und die Zeit war kurz. Russland hat wenig Erfahrungen mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die zarische Autokratie, die Leibeigenschaft, die sowjetische Diktatur, das Blutbad an der eigenen Bevölkerung im Stalinismus, die Überwachung und Manipulation haben den meisten Menschen die Vorstellung, politische Verantwortung zu tragen und etwas bewirken zu können, ausgetrieben. Später kamen die teils gescheiterten Reformen der 1990er Jahre und schließlich deren Rückbau unter Präsident Putin.
Wie hat der Krieg die russische Gesellschaft verändert? Die Sanktionen scheinen bislang wenig Wirkung zu zeigen, dennoch fallen viele junge Männer, wo bleibt der Protest der Mütter?
Die westlichen Finanzsanktionen zeigen Wirkung; die Wirtschaftssanktionen werden teils mit Hilfe anderer Staaten umgangen. Dass sie Russland zum Ende des Krieges bewegen, ist jedoch derzeit nicht abzusehen. Einen öffentlichen Aufstand gegen den Krieg haben sie ebenfalls nicht hervorgerufen. In den vergangenen sechs Jahren wurden in Russland mehr Menschen für politische Delikte wie Kritik am Krieg und Teilnahme an Demonstrationen verhaftet als je zuvor seit Stalins Tod vor 70 Jahren. Protest, auch von Soldatenmüttern und -frauen, wird rigoros unterdrückt – zudem kommt ein Gros der Soldaten nicht aus Kernrussland. In den Medien regiert die Kriegshetze. Hunderttausende Menschen haben das Land verlassen, viele ziehen sich ins Private zurück.
Barack Obama bezeichnete Russland – etwas arrogant – als eine Mittelmacht. Seit geraumer Zeit versucht Russland, seinen Einfluss auf Staaten und politische Akteure in Europa, im Nahen Osten und in Afrika auszuweiten. Ist Russland zurück auf der politischen Weltbühne oder zeigt die Tatsache, dass Russland bislang den Krieg gegen Ukraine nicht gewinnen konnte, seine Schwäche auf? Hatte Obama recht?
Obama sprach 2014 von einer Regionalmacht, deren äußere Aggression ein Ausdruck innerer Schwäche des Regimes sei. Helmut Schmidt bezeichnete die Sowjetunion gar als „Obervolta mit Atomraketen“. Beides ist unhöflich, aber versucht, den seltsamen Widerspruch zwischen dem Supermachtanspruch Moskaus, der wenig innovativen Wirtschaft und der schwachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu fassen. Auf der Weltbühne war Moskau damals wie heute sehr aktiv. Der Rückzug der 1990er Jahre ist eher eine Ausnahme.
Chinas Modell basiert auf einem von der Partei kontrollierten Kapitalismus, wie legitimiert sich Russlands System, was ist der ideologische Kitt der Herrschaft Putins?
Der Kitt war lange Zeit ebenfalls das Wirtschaftswachstum, verbunden mit der Überwindung der Unsicherheit der 1990er Jahre. Spätestens 2012 kam eine ultrakonservative Gesellschafts- und imperialistische Außenpolitik dazu, die den „liberalen“ Westen als Feind darstellt.
Eine Meuterei von Söldnern würde wohl auch in demokratischen Staaten niedergeschlagen werden – allerdings würde der Anführer dann vor Gericht gestellt. Die generelle Unterdrückung der Meinungsfreiheit hingegen kann man als Zeichen des Unsicherheitsgefühls eines autoritären Regimes interpretieren, das die eigene Bevölkerung fürchtet. Auch den russischen Überfall auf die Ukraine kann man als den Versuch werten, eine eher demokratisch inspirierte Alternative vor der Haustüre Russlands auszuschalten und dadurch das autoritäre System in Russland zu stabilisieren. Das erscheint mir als die plausibelste Erklärung.
Wie sehen Sie die Entwicklung Russlands seit Gorbatschow, gab es jemals die Chance für eine funktionierende Demokratie und wenn nein, warum nicht?
Eine Chance bestand durchaus, aber die Voraussetzungen waren schlecht und die Zeit war kurz. Russland hat wenig Erfahrungen mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die zarische Autokratie, die Leibeigenschaft, die sowjetische Diktatur, das Blutbad an der eigenen Bevölkerung im Stalinismus, die Überwachung und Manipulation haben den meisten Menschen die Vorstellung, politische Verantwortung zu tragen und etwas bewirken zu können, ausgetrieben. Später kamen die teils gescheiterten Reformen der 1990er Jahre und schließlich deren Rückbau unter Präsident Putin.
Wie hat der Krieg die russische Gesellschaft verändert? Die Sanktionen scheinen bislang wenig Wirkung zu zeigen, dennoch fallen viele junge Männer, wo bleibt der Protest der Mütter?
Die westlichen Finanzsanktionen zeigen Wirkung; die Wirtschaftssanktionen werden teils mit Hilfe anderer Staaten umgangen. Dass sie Russland zum Ende des Krieges bewegen, ist jedoch derzeit nicht abzusehen. Einen öffentlichen Aufstand gegen den Krieg haben sie ebenfalls nicht hervorgerufen. In den vergangenen sechs Jahren wurden in Russland mehr Menschen für politische Delikte wie Kritik am Krieg und Teilnahme an Demonstrationen verhaftet als je zuvor seit Stalins Tod vor 70 Jahren. Protest, auch von Soldatenmüttern und -frauen, wird rigoros unterdrückt – zudem kommt ein Gros der Soldaten nicht aus Kernrussland. In den Medien regiert die Kriegshetze. Hunderttausende Menschen haben das Land verlassen, viele ziehen sich ins Private zurück.
Barack Obama bezeichnete Russland – etwas arrogant – als eine Mittelmacht. Seit geraumer Zeit versucht Russland, seinen Einfluss auf Staaten und politische Akteure in Europa, im Nahen Osten und in Afrika auszuweiten. Ist Russland zurück auf der politischen Weltbühne oder zeigt die Tatsache, dass Russland bislang den Krieg gegen Ukraine nicht gewinnen konnte, seine Schwäche auf? Hatte Obama recht?
Obama sprach 2014 von einer Regionalmacht, deren äußere Aggression ein Ausdruck innerer Schwäche des Regimes sei. Helmut Schmidt bezeichnete die Sowjetunion gar als „Obervolta mit Atomraketen“. Beides ist unhöflich, aber versucht, den seltsamen Widerspruch zwischen dem Supermachtanspruch Moskaus, der wenig innovativen Wirtschaft und der schwachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu fassen. Auf der Weltbühne war Moskau damals wie heute sehr aktiv. Der Rückzug der 1990er Jahre ist eher eine Ausnahme.
Chinas Modell basiert auf einem von der Partei kontrollierten Kapitalismus, wie legitimiert sich Russlands System, was ist der ideologische Kitt der Herrschaft Putins?
Der Kitt war lange Zeit ebenfalls das Wirtschaftswachstum, verbunden mit der Überwindung der Unsicherheit der 1990er Jahre. Spätestens 2012 kam eine ultrakonservative Gesellschafts- und imperialistische Außenpolitik dazu, die den „liberalen“ Westen als Feind darstellt.
Die westlichen Finanzsanktionen zeigen Wirkung; die Wirtschaftssanktionen werden teils mit Hilfe anderer Staaten umgangen. Dass sie Russland zum Ende des Krieges bewegen, ist jedoch derzeit nicht abzusehen. Einen öffentlichen Aufstand gegen den Krieg haben sie ebenfalls nicht hervorgerufen. In den vergangenen sechs Jahren wurden in Russland mehr Menschen für politische Delikte wie Kritik am Krieg und Teilnahme an Demonstrationen verhaftet als je zuvor seit Stalins Tod vor 70 Jahren. Protest, auch von Soldatenmüttern und -frauen, wird rigoros unterdrückt – zudem kommt ein Gros der Soldaten nicht aus Kernrussland. In den Medien regiert die Kriegshetze. Hunderttausende Menschen haben das Land verlassen, viele ziehen sich ins Private zurück.
Barack Obama bezeichnete Russland – etwas arrogant – als eine Mittelmacht. Seit geraumer Zeit versucht Russland, seinen Einfluss auf Staaten und politische Akteure in Europa, im Nahen Osten und in Afrika auszuweiten. Ist Russland zurück auf der politischen Weltbühne oder zeigt die Tatsache, dass Russland bislang den Krieg gegen Ukraine nicht gewinnen konnte, seine Schwäche auf? Hatte Obama recht?
Obama sprach 2014 von einer Regionalmacht, deren äußere Aggression ein Ausdruck innerer Schwäche des Regimes sei. Helmut Schmidt bezeichnete die Sowjetunion gar als „Obervolta mit Atomraketen“. Beides ist unhöflich, aber versucht, den seltsamen Widerspruch zwischen dem Supermachtanspruch Moskaus, der wenig innovativen Wirtschaft und der schwachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu fassen. Auf der Weltbühne war Moskau damals wie heute sehr aktiv. Der Rückzug der 1990er Jahre ist eher eine Ausnahme.
Chinas Modell basiert auf einem von der Partei kontrollierten Kapitalismus, wie legitimiert sich Russlands System, was ist der ideologische Kitt der Herrschaft Putins?
Der Kitt war lange Zeit ebenfalls das Wirtschaftswachstum, verbunden mit der Überwindung der Unsicherheit der 1990er Jahre. Spätestens 2012 kam eine ultrakonservative Gesellschafts- und imperialistische Außenpolitik dazu, die den „liberalen“ Westen als Feind darstellt.
Der Kitt war lange Zeit ebenfalls das Wirtschaftswachstum, verbunden mit der Überwindung der Unsicherheit der 1990er Jahre. Spätestens 2012 kam eine ultrakonservative Gesellschafts- und imperialistische Außenpolitik dazu, die den „liberalen“ Westen als Feind darstellt.
Waren Sie überrascht und schockiert über den Angriff Russlands auf die Ukraine oder hat Sie die Erfolglosigkeit Russlands, die Ukraine im Handstreich zu nehmen, noch mehr überrascht?
Ich war vom russischen Angriff schockiert und von der großen ukrainischen Bereitschaft und Fähigkeit, sich zu verteidigen, überrascht.
Der Konflikt mit der Ukraine schwelt ja schon länger – warum setzte Putin gerade Anfang 2022 seine Drohungen in die Tat um? Und hat der Krieg nicht schon mit der Krimbesetzung begonnen?
Ja, der Krieg hat 2014 begonnen – nicht nur auf der Krim, sondern auch im Donbass, im Internet, in der Propaganda und bei verdeckten Operationen an vielen Orten. Möglicherweise war die „große“ Invasion bereits damals eine Option. Warum sie 2022 passierte, können wir nur spekulieren: Hohe Rohstoffpreise, neue Regierungen in den USA und Deutschland, bevorstehende Wahlen in Frankreich, sinkende Umfragewerte in der Ukraine und in Russland sowie die ideologische Radikalisierung im Kreml während COVID werden oft als mögliche Faktoren genannt.
Putin hat im Wesentlichen immer wieder drei Kriegsgründe vorgebracht. Zum einen, die Nato habe zugesagt, sich nicht nach Osten auszudehnen, Russland sei von der Nato betrogen worden. Zum anderen, die russischsprachige Bevölkerung werde von der „Naziregierung“ in Kiew unterdrückt, ja einem Genozid ausgesetzt. Darüber hinaus sprach er der Ukraine ab, eine eigene Nation zu sein. Ist dies für Sie plausibel?
Keiner der Gründe trifft zu. Ein Einschreiten ansatzweise rechtfertigen könnte nur ein Genozid, aber der fand bekanntlich nicht statt. Westliche Politiker, sprachen wohl 1990-91 von einer Nichtausdehnung der NATO, aber es kam nie zu einem entsprechenden Vertrag. Als später die mitteleuropäischen Staaten wie etwa Polen aufgrund ihrer historischen Erfahrungen mit Russland den Schutz der NATO suchten, wurden sie aufgenommen. Boris Jelzin und Wladimir Putin erkannten das öffentlich als bilaterale Angelegenheiten der betroffenen Staaten an. Als die russische Aggression gegen die Ukraine 2014 begann, war diese neutral. Erst in Reaktion auf die russische Aggression sprach sich die Ukraine mehrheitlich für einen NATO-Beitritt aus. Eine Unterdrückung der russischsprachigen Volksgruppe gab es nicht, obwohl die ukrainische Sprache gefördert wurde. Die 2012 eingeführte regionale Gleichstellung beider Sprachen wurde 2019 als verfassungswidrig aufgehoben. Die Regierung der Ukraine ist demokratisch gewählt, gemäßigt und nicht nazistisch ausgerichtet und umfasst auch Angehörige der russischsprachigen, krimtatarischen und jüdischen Minderheiten. Dass die Ukrainer eine Nation sind, beweisen sie seit zwei Jahren durch ihren einhelligen Widerstand gegen die Aggression – über alle Sprachgrenzen hinweg.
Ja, der Krieg hat 2014 begonnen – nicht nur auf der Krim, sondern auch im Donbass, im Internet, in der Propaganda und bei verdeckten Operationen an vielen Orten. Möglicherweise war die „große“ Invasion bereits damals eine Option. Warum sie 2022 passierte, können wir nur spekulieren: Hohe Rohstoffpreise, neue Regierungen in den USA und Deutschland, bevorstehende Wahlen in Frankreich, sinkende Umfragewerte in der Ukraine und in Russland sowie die ideologische Radikalisierung im Kreml während COVID werden oft als mögliche Faktoren genannt.
Putin hat im Wesentlichen immer wieder drei Kriegsgründe vorgebracht. Zum einen, die Nato habe zugesagt, sich nicht nach Osten auszudehnen, Russland sei von der Nato betrogen worden. Zum anderen, die russischsprachige Bevölkerung werde von der „Naziregierung“ in Kiew unterdrückt, ja einem Genozid ausgesetzt. Darüber hinaus sprach er der Ukraine ab, eine eigene Nation zu sein. Ist dies für Sie plausibel?
Keiner der Gründe trifft zu. Ein Einschreiten ansatzweise rechtfertigen könnte nur ein Genozid, aber der fand bekanntlich nicht statt. Westliche Politiker, sprachen wohl 1990-91 von einer Nichtausdehnung der NATO, aber es kam nie zu einem entsprechenden Vertrag. Als später die mitteleuropäischen Staaten wie etwa Polen aufgrund ihrer historischen Erfahrungen mit Russland den Schutz der NATO suchten, wurden sie aufgenommen. Boris Jelzin und Wladimir Putin erkannten das öffentlich als bilaterale Angelegenheiten der betroffenen Staaten an. Als die russische Aggression gegen die Ukraine 2014 begann, war diese neutral. Erst in Reaktion auf die russische Aggression sprach sich die Ukraine mehrheitlich für einen NATO-Beitritt aus. Eine Unterdrückung der russischsprachigen Volksgruppe gab es nicht, obwohl die ukrainische Sprache gefördert wurde. Die 2012 eingeführte regionale Gleichstellung beider Sprachen wurde 2019 als verfassungswidrig aufgehoben. Die Regierung der Ukraine ist demokratisch gewählt, gemäßigt und nicht nazistisch ausgerichtet und umfasst auch Angehörige der russischsprachigen, krimtatarischen und jüdischen Minderheiten. Dass die Ukrainer eine Nation sind, beweisen sie seit zwei Jahren durch ihren einhelligen Widerstand gegen die Aggression – über alle Sprachgrenzen hinweg.
Welche politische Logik und welches Geschichtsbild treibt Putin an? Retour zur Sowjetunion? War und ist sein Ziel letztlich die Auslöschung der Ukraine als eigenständiger freier Staat?
Ja, es ist die Logik einer Autokratie, die eine eigenständige, basisdemokratisch motivierte Alternative in der Ukraine auslöschen möchte. Faktisch ist das Ziel die Rückkehr zu einer, ideologisch allerdings eher rechtsradikalen, Sowjetunion.
Die Reaktion des Westens ist bis heute zwiespältig, militärische Unterstützung, aber in Grenzen. Gilt bislang „zuviel zum Sterben, zu wenig, um zu leben“?
Die westliche Unterstützung ist für die Ukraine überlebensnotwendig und entspricht der Verpflichtung der Staatengemeinschaft zur kollektiven Sicherheit. Richtig ist, sie kommt oft in zu geringem Umfang und zu spät, um den Krieg rasch beenden und die Ukraine nachhaltig sichern zu können.
Wie beurteilen Sie den bisherigen Kriegsverlauf? Ist nicht das Gegenteil eingetreten, was Putin wollte? Stichwort: NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens, die NATO-Grenze rückte direkt an Russland und die Ukraine wurde zum kampfbereiten, einigen Staat. Hat sich Putin verkalkuliert?
Auf die westliche Erleichterung über den ukrainischen Abwehrerfolg 2022 folgte nun der Katzenjammer über die gescheiterte Gegenoffensive 2023. Die westlichen Gesellschaften werden von Wladimir Putin als schwach eingeschätzt – es bleibt abzuwarten, ob er Recht hat. Der Widerstand der Ukraine und der NATO-Beitritt Finnlands sprechen tatsächlich für eine Fehlkalkulation. Der Fall Finnlands zeigt auch, dass es Präsident Putin beim Krieg gegen die Ukraine nie um die NATO ging. Wenn man bedenkt, dass das BIP der NATO das Zwanzigfache jenes Russlands darstellt, kann der Westen eine zentrale Rolle spielen. Aber natürlich spielt auch der politische Wille eine Rolle.
Die westliche Unterstützung ist für die Ukraine überlebensnotwendig und entspricht der Verpflichtung der Staatengemeinschaft zur kollektiven Sicherheit. Richtig ist, sie kommt oft in zu geringem Umfang und zu spät, um den Krieg rasch beenden und die Ukraine nachhaltig sichern zu können.
Wie beurteilen Sie den bisherigen Kriegsverlauf? Ist nicht das Gegenteil eingetreten, was Putin wollte? Stichwort: NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens, die NATO-Grenze rückte direkt an Russland und die Ukraine wurde zum kampfbereiten, einigen Staat. Hat sich Putin verkalkuliert?
Auf die westliche Erleichterung über den ukrainischen Abwehrerfolg 2022 folgte nun der Katzenjammer über die gescheiterte Gegenoffensive 2023. Die westlichen Gesellschaften werden von Wladimir Putin als schwach eingeschätzt – es bleibt abzuwarten, ob er Recht hat. Der Widerstand der Ukraine und der NATO-Beitritt Finnlands sprechen tatsächlich für eine Fehlkalkulation. Der Fall Finnlands zeigt auch, dass es Präsident Putin beim Krieg gegen die Ukraine nie um die NATO ging. Wenn man bedenkt, dass das BIP der NATO das Zwanzigfache jenes Russlands darstellt, kann der Westen eine zentrale Rolle spielen. Aber natürlich spielt auch der politische Wille eine Rolle.
Zum einen erhielt der Ruf nach Friedensverhandlungen, nunmehr durch den Sager des Papstes, die Ukraine solle die weiße Fahne hissen, weitere Unterstützung. Zum anderen schloss Präsident Macron den Einsatz von Bodentruppen nicht aus. In Deutschland wurde gar der Ruf nach eigenen Atomraketen laut. Ist Europa zunehmend kriegsmüde oder bereit und in der Lage zunehmend selbst die Verantwortung für die eigene Sicherheit zu übernehmen?
Friedensforderungen sind legitim. Die Chance auf einen nachhaltigen Frieden im Sinne von Sicherheit, Selbstbestimmung und Freiheit ist am größten, wenn die westliche Unterstützung für die Ukraine hoch ist. Großbritannien und Frankreich sind Atommächte und zum Beistand gegenüber anderen NATO-Staaten verpflichtet. Mit oder ohne US-Unterstützung sollte Europa jedenfalls mehr in die eigene Verteidigung investieren als bisher, wenn es verteidigungsfähig sein will.
Ist eine Verhandlungslösung aufgrund der diametral entgegengesetzten Standpunkte von Russland und Ukraine überhaupt möglich?
Positiv ist, dass für den Krieg kein jahrzehntealtes, kompliziertes Problem verantwortlich ist, sondern „nur“ der Wille des Präsidenten Russlands. Zwischen der völkerrechtlichen Existenz einer souveränen Ukraine und deren Leugnung gibt es aber keinen Kompromiss. Selbst territoriale Fragen sind schwierig: Einerseits, weil es um die Schicksale der Menschen in den besetzten Gebieten geht, wo viele getötet, gefoltert, unterdrückt, deportiert und umerzogen werden. Andererseits, weil die Staatengemeinschaft kein Interesse daran haben kann, dass Eroberungskriege durch territoriale Zugeständnisse belohnt werden.
Wie ernst sind die Drohungen Putins eines Atomkriegs (auch der Einsatz von taktischen Atomwaffen) zu nehmen und was sind die globalen Folgen dieser Drohgebärden?
Sie sind ein Teil der psychologischen Kriegsführung. Das bedeutet nicht, dass man sie nicht ernst nimmt. Die Folgen wären schwer – auch für Russland. Global ist eine neue Welle der atomaren Rüstung zu erwarten – jeder kann sehen, dass Staaten ohne Atomwaffen von solchen mit Atomwaffen erpresst werden können.
Joe Biden warnt vor Putins Imperialismus und sagt, dass sich Putin nicht mit der Ukraine zufriedengeben würde. Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass er tatsächlich ein Nato-Land angreifen würde?
Das wird vom Kriegsverlauf in der Ukraine, aber auch vom Zustand der NATO abhängen. Ein gespaltener Westen wäre ein leichteres Ziel als ein geeinter. Zuvor sind aber eher Länder außerhalb der NATO bedroht. Im Cyberspace und in den Medien finden Angriffe bereits statt – auch auf Deutschland und andere westliche Staaten. Präsident Putin und seine Gehilfen haben den ganzen Westen als Kriegsgegner genannt.
Und noch eine Bitte um eine Prognose: Wird es eine souveräne Ukraine in fünf Jahren noch geben? Ist ein Friede beziehungsweise ein andauernder Waffenstillstand ohne NATO-Schutz – was quasi einer NATO-Mitgliedschaft gleichkommt – vorstellbar?
Historisch gesehen, sind die expansiven Imperien in Europa Nationalstaaten gewichen. Ich gehe daher davon aus, dass es eine souveräne Ukraine auch in Zukunft geben wird. Um den Krieg zu beenden, Frieden zu schaffen und künftige Kriege möglichst auszuschließen, wäre eine westliche Beistandsgarantie oder NATO-Mitgliedschaft für die Ukraine zweckmäßig.