Sie haben in der Ausstellung ›Structures of Madness, or why Shepherds living in the mountains often go crazy‹ Bilder und Zeichnungen von Felsformationen aus dem Jahr 2011 frühen Arbeiten aus der Serie ›Yesterday’s Sandwich‹ gegenübergestellt, die Ende der 1960er- und in den 1970er-Jahren entstanden sind, collageartig einen Blick auf den absurden Alltag der Sowjetunion werfen und sowohl thematisch als auch formal sehr unterschiedlich erscheinen. Wie verhält es sich mit Kontinuität und Innovation in Ihrer Arbeit?
Die formale Kontinuität ist klar die Montage, die inhaltliche Verbindung ist wohl strukturalistisch-philosophischer Natur. Die Serie ›Structures of Madness or …‹ zeigt Bilder, die den Blick auf das Anthropomorphe von Felsszenerien freilegen, in die die Anfänge der Menschen, ihre Erscheinung, ihre Urgeschichte in Materie eingeschrieben sind — eine Beschreibung des Zustands der Welt, ein befreiender Blick auf unser Leben in seiner ganzen Unklarheit.
Muss ein Künstler sich immer wieder neu erfinden und sich dennoch treu bleiben?
Ich habe immer versucht, mich neu zu erfinden. Treue ist jedoch keine künstlerische Kategorie.
Erlaubt der Markt im Westen überhaupt, dass man sich immer neu erfindet? Ist Erfolg nicht stark an die Entwicklung einer Art ›Marke durch Wiederholung‹ gebunden?
Die Frage hat mich nie beschäftigt. Ich verändere mich, wie es mir gefällt, basta. Meine Obdachlosen haben sich anfangs überhaupt nicht verkauft. Mich interessiert, wie das Leben sich entwickelt, nicht, was der Markt verlangt.
Gibt es ein Grundthema, eine Art Leitmotiv in Ihrer Arbeit?
Ja, die Vereinigung der Gegensätze, und die findet für mich am intensivsten in Beziehung zum weiblichen Körper statt, in der Sexualität. Das ist das Grundthema, in immer neuen, anderen Situationen, ob schön, ob hässlich, in allen möglichen Spannungsfeldern.
Können Sie mir sagen, wie ›Yesterday’s Sandwich‹ entstanden ist?
Ich würde lieber über das Ende der Geschichte sprechen als über den Anfang. Als ich mit Fotografieren in der Sowjetunion begann, sagte ich mir, das ist die Wahrheit, dann stellte ich fest, es ist nicht die Wahrheit. Dann wollte ich immer neue Fotos machen und habe sie — mit meiner ›Butterbrotmontage‹ — übereinandergelegt, um Entwicklungen darzustellen, und das war natürlich Manipulation, nicht mehr, aber auch nicht weniger wahr — das zur Wahrheit.
Wie kam es zur Verbindung von Sandwich-Fotos mit dem Film, mit Pink Floyd? Lieben Sie diese Musik und dieses Lebensgefühl?
Ich habe das aus der Not heraus gemacht. Ich wollte einen Film machen, da verband ich die Fotos mit Musik. Und zudem habe ich Pink Floyd verehrt.
Sie arbeiten sehr oft in Serien und dies über lange Zeiträume. Braucht gutes Werk Weile?
An ›Yesterday’s Sandwich‹ habe ich zehn Jahre gearbeitet, an der Obdachlosenreihe ein Jahr, an ›Structures of Madness‹ fünf Tage. Nein, gute Kunst ist für mich keine Frage der Zeit. Was meine Liebe für Serien angeht, bin ich der Auffassung, dass ein einzelnes Bild zu einem Thema nicht die Wahrheit ist.
Ihre Arbeiten haben sehr oft Menschen im Mittelpunkt. Lieben Sie die Menschen?
Die Frage erinnert mich an eine andere Frage: ›Lieben sie Tomaten?‹, auf die ich antworte: ›Wenn ich sie esse, ja.‹
Unterscheidet sich das Verhalten von fotografierten Menschen heute von jenem, als Sie mit Ihrer Arbeit begannen?
Es ist schwerer geworden, Menschen zu fotografieren. Früher haben sie sich gefreut, heute drohen sie dir oder hetzen dir gleich den Anwalt auf den Hals. In dem Maße jedoch, wie heute jeder über eine Kamera verfügt, ist der Fotograf entwertet.
Wann hatten Sie erstmals das Gefühl, erfolgreich zu sein?
Das war, als ich das erste Mal Fotos machte und im Fotoclub Freunden die Dias zeigen konnte; das war künstlerisch, als mit ›Yesterday’s Sandwich‹ meine ersten Bilder entstanden. Aber das erste Geld machte ich, als ich reisen konnte, mit Verkauf von Leica-Kameras im Ausland, nicht mit meinen Fotografien.
Können sie sich an Ihr erstes Foto erinnern?
Ja, das war das Foto eines alten Mannes, der zwischen alten Kästen saß. Damals fragte ich mich, warum solche Bilder nicht gemacht und nicht gezeigt werden. Da war ich 28 und hatte erstmals eine Kamera. Das Foto habe ich als Kunst empfunden. Mir gefiel, dass ich mich mit der Kamera gesellschaftlich einmischen konnte, ohne wirklich auftreten zu müssen. Ich weiß, dass das damals oberflächlich war, die Dinge liegen tiefer.
Sie waren ja Ingenieur, wie kamen sie zur Fotografie?
Ich bekam den Fotoapparat geschenkt. Interessanterweise waren in Charkow alle guten Ingenieure Fotografen.
Apropos Zensur: Wie ist Ihr Leben als Fotograf in der Sowjetunion verlaufen?
Ich wollte die Aktfotos nicht veröffentlichen. Der Betrieb, für den ich arbeitete, hatte ein Fotolabor. Von dort kamen sie zum KGB. Was ich machte, entsprach nicht der sozialistischen Moral. Die Konsequenzen sind bekannt und ich nahm sie in Kauf.
Gibt es Helden, Vorbilder der Fotografie für Sie?
Alle sind wichtig, es gibt keine schlechten Künstler.
Sie wurden immer wieder als kritischer Dokumentarist der Sowjetunion bezeichnet.
Die Arbeiten und Ausstellungen aus der Sowjetzeit zeigen, dass es damals notwendig war. Jetzt ist es nicht mehr notwendig. Jede Kunst hat ihre Zeit.
Denken Sie, trotz aller Kritik und Nachteile, auch mit Melancholie an die Sowjetgesellschaft zurück?
Nostalgie, Sehnsucht nach der Sowjetunion nein, nach der Jugend vielleicht, aber zurück nein. Wir haben uns damals nicht gefragt, wie ist das Leben, gut oder schlecht. Nein, es war, wie es war, in den 1980er-Jahren im Umbruch, als unklar war, wohin mit uns, mit unserem Leben. Da war die Frage wichtig, wer sind wir, wie ist unser Verhältnis zur Kultur und zur Welt, wie leben wir eigentlich?
Ihre Arbeiten wie ›Yesterday’s Sandwich‹ wirken surreal, Bilder zwischen Traum und Wirklichkeit.
Das ist der gewöhnliche Surrealismus der Sowjetunion, unwirklich und wirklich zugleich, es ist die absurde Vereinigung der Gegensätze, die Dialektik der sowjetischen Periode. Im Westen gab es eine klare Trennung zwischen Gut und Böse, in der Sowjetunion war das parallel, Traum und Wirklichkeit zugleich. Meine Collagen, meine Butterbrotmethode erlaubte mir, dies zu reflektieren. Und der sozialistische Realismus war kollektiv und schwer. Durch die ständige Adressierung der Zukunft war die Zukunft diskreditiert.
Gehen Sie als Fotograf der Frage nach, was ist der Mensch?
Das interessiert mich nicht, das ist eine Frage an Propagandisten.
Was interessiert Sie an den Menschen, die Sie abbilden?
Elementare Gesten, das Einzelne, das Alltägliche, nicht das Allgemeine, das Große, Außergewöhnliche, sondern das Essenzielle des Augenblicks, um der Wahrheit willen.
Sie sahen sich auch mit dem Vorwurf des Voyeurismus, der Ausbeutung der Fotografierten konfrontiert. Zu Unrecht?
Der Verkäufer im Geschäft missbraucht den Ladenbesitzer und die Käufer missbrauchen den Ladenbesitzer. Mir ging es immer darum, Menschen darzustellen, die selbst ihr Leben zeigen wollten, einem Leben, mit dem sie unzufrieden und unglücklich waren. Sie wollten selbst die Gesellschaft anklagen.
Schönheit und Hässlichkeit — ein Gegensatz für Sie?
Die Schönheit ist nicht die Wahrheit. So ist eine Frau nie nur schön, eine schöne Frau ist immer auch hässlich, das ist der Konflikt des Fotografen. Wichtig für mich ist aber auch der soziale Charakter der Fotos. In der Sowjetunion gab es nur das Schöne, das Hässliche gab es nicht. Was für den Staat jedoch schön und gut war, war in Wahrheit hässlich, nichts als Propaganda und Reklame.
Wenn man Ihre Arbeit näher kennt, kann man sich manchmal nicht des Gefühls erwehren, es mit einem Schalk, einem Mann voller Ironie zu tun zu haben …
Ich habe nichts dagegen. Das ist eine Auszeichnung.
Welche Rolle sollte ein Künstler Ihrer Meinung nach heute überhaupt einnehmen?
Heute oder gestern, er sollte Risiken eingehen, er sollte sich wie Flatz selbst in Gefahr bringen.