Bis ins 18. Jahrhundert war die Reise als Selbstzweck, als Abenteuer, nahezu unbekannt. Exil, Verbannung, Geld- und Eroberungsdrang waren die langläufig unerquicklichen Motive des Ortswechsels. Noch 1790 richtete Reichards ›Guide des voyageurs‹ sein Interesse nicht auf die ›Sehenswurdigkeiten‹ der Natur und Kultur, sondern auf die Sicherheit des Weges, die kürzeste Route, die Preise der Unterkunft, mithin rein praktische Erwägungen leiteten seine Empfehlungen. Modisch werdende Kavaliers- und Bildungsreisen finden in Tischbeins klassisch-arkadischem Gemälde ›Goethe in der Campagna‹, das den Dichterfürsten lässig in die paradiesische italienische Landschaft setzt, ihren bildnerischen Höhepunkt. Mit John Murrays 1840 erschienenen ersten ›Red Book‹ beginnt die touristische — nicht zufällig eine englische Wortschöpfung — Großoffensive zu Land, Luft und Wasser. Lord Byrons Pionierleistungen haben im heutigen Griechenland Touristen immer noch die Bezeichnung ›lordoi‹ zu verdanken. Die alpinistische Stoßrichtung auf das Elementare, Unentdeckte, das Abenteuerliche schlechthin steht für jene von ihren Leitbildern der unberührten Landschaft und Geschichte gefärbten Reiseideologien des späten 18. und 19 Jahrhunderts. Ein historischer Unberührtheits- und topografischer Jungfräulichkeitswahn, der im modernen Individualismus seine rührend naiven Auslaufmodelle gefunden hat.
In der aufbrechenden Industriegesellschaft jedoch wuchs der Wunsch, der Unfreiheit der arbeitsteiligen Welt zu entkommen. Der Tourismus als Wettlauf um die Freiheit begann. Doch der Igel erwartet den keuchenden Hasen stets bereits im Ziel. Wie Enzensberger in seiner kritischen Theorie des Tourismus treffend bemerkt, gehört die Kritik am Tourismus, die er hervorbringt, in Wahrheit zu ihm selbst. Das Unberührte geriet zur heuchlerisch-touristischen Erlösungsmaxime, so etwa wie beinahe zur gleichen Zeit die Innovation zur ideologischen Mystifikation der künstlerischen Moderne wurde. Es ist wohl kein Zufall, dass die Künstler ihre volle Autonomie errangen, die im Motto ›L’art pour l’art‹ ihren Widerhall fand, in einer Zeit, als auch die Reise sich zunehmend von ihrer Zwecksetzung befreite und ›Die Reise um der Reise willen‹ den wahren Reisenden vom bloßen Urlauber zu unterscheiden half. Ziel der Reise ist die Reise. Die Obsession des Reisenden beschreibt der französische Diplomat, Graf Gobineau, den ein Leben unsteten Wanderns durch Europa, Nordafrika, Brasilien und Afghanistan führte, in seinen Lebensbetrachtungen ›La vie de voyage‹ emphatisch: ›Es (das Reiseleben) ist das Einzige eines denkenden Wesens würdige. Wer einmal davon gekostet hat, mag kein anderes mehr ertragen‹.
Leiris wünscht sich in seinem Tagebuch, das seichte und bekannte Leben Europas hinter sich zu lassen. Seine Forschungsreisen sind ihm zumindest temporäres Remedium gegen die Langeweile des Gewohnten und Gleichförmigen. Der ständige Ortswechsel wird zum Chiffre des schlussendlich vergeblichen Versuchs, die in den Lebensüberdruss mündende uneinlösbare Gier nach Leben zu bändigen. Evelyn Waugh formuliert es in seinem Kolonialroman ›Black Mischief‹ britisch lakonisch, wenn er den jungen Basil, der seine Abwechslung in einer — beliebigen — afrikanischen Revolution sucht, auf dem beharrlichen Weg ins Abenteuer den Satz mitgibt ›Fellow, who is tired of London, is tired of life‹. Dem Reisenden wird die Reise zur Droge. Ein Sedativum, das er schlussendlich in immer höheren Dosen benötigt, um seine nachlassende Wirkung zu übertönen.
Die Geschichte der Reise ist aber stets auch eine Geschichte der Angst gewesen, das zu verlieren, was eben errungen wurde. Die Melancholie der verlorenen Bilder und Menschen beklagt Rageot in seinem 1928 erschienen Buch ›L’homme standard‹: ›Gestern kannten wir uns noch nicht, und morgen werden wir uns für immer trennen‹. Max Dauthendey bedauert in ›Himalajafinsternis‹ die Angst des Reisenden vor Desillusionierung seiner Träume. ›Das ist der Fluch und zugleich die Wollust des Reisens, dass es dir Orte, die dir vorher in der Unendlichkeit und Unerreichbarkeit lagen, endlich und erreichbar macht.‹
Hinzu tritt die Enttäuschung darüber, dass nicht alles beliebig und zu jeder Zeit erfahrbar ist. So schreibt der Ethnologe Levy-Strauss in ›Traurige Tropen‹: ›Was wäre schöner gewesen, im 18. Jahrhundert mit Bougainville, oder im 16. Jahrhundert mit Thevet nach Rio zu fahren.‹
Die fieberhafte Abfolge von Orten, Eindrücken und Bildern lässt, wie Virillio bemerkt, den Reisenden die Welt flimmernd wie unscharfe Bilder eines Bildschirmes erleben. Die Außenwelt verschwindet zusehends. Der Raum verliert an Kontur, Schwere und Tiefe. Der Reisende träumt seinen Traum von Unsterblichkeit und richtet sich in der Gegenwart, in der Reise selbst ein.
Die sisyphushafte Anstrengung des Reisenden birgt schmerzhafte Melancholie in sich. Paul Morand schildert den Reisenden in seinem Buch ›L’homme pressé‹ jemanden in permanentem Zeitdruck. Hinter der Hast des Reisenden steht allgegenwärtig die Furcht vor dem schwindelerregenden Ablauf der Zeit, die Angst, es könnte bald zu Ende sein, man käme nicht weit genug. Letztlich ist die Reise nichts anderes als ein Palliativ gegen das Sein als ein zum Tode Sein, die unstillbare und aussichtslose Sehnsucht, aus der Zeit zu fallen, ja, sie anzuhalten. Doch die Erhöhung der Reisegeschwindigkeit erlaubt Raum- und nicht Zeitgewinn. So wie der Kampf gegen die Entfernung gewonnen ist, ist jener gegen die Zeit verloren.
Der auf alten Globen zitierte Spruch ›Nasce te ipsum‹ artikuliert nichts anderes als die Sehnsucht am Fremden, sich selbst zu erkennen. Auch in Leiris Tagebüchern fokussiert das Interesse zunehmend auf die eigene Person, kommt einer literarischen Selbstanalyse gleich. Nicht selten markiert die Reise auch die Zäsur zwischen Eigen- und Fremdbestimmung. So vollzieht Baudelaire etwa 1841 mit seiner Fahrt nach Kalkutta den Bruch mit seiner Familie. Der Buchhalter Kringelein fährt in Vicki Baums ›Menschen im Hotel‹, nachdem er von seiner tödlichen Krankheit weiß, aus seinem grauen, kleinbürgerlichen Einerlei in eine Freiheit, die ›Paris‹ heißt. In einem Aphorismus lässt uns hingegen Otto Weininger um die Untauglichkeit dieser Versuche wissen: Von einem Bahnhof aus könne man niemals in die Freiheit fahren. In dieser Vergeblichkeit jedoch offenbart sich der stille Heroismus des Reisenden, dem das Leben in Bewegung der einzig mögliche Lebensentwurf ist. Die Losgelöstheit von Nützlichkeit und Zwecksetzung, ein Leben ohne festen Wohnsitz, ein fortwahrendes ›Off balance‹, wie es Ian McEwan in ›Comfort of strangers‹ nennt, lässt den Reisenden zum verrückten und exaltierten Außenseiter in einer Gesellschaft werden, in der Sesshaftigheit, Dauer und Bindung zur unanzweifelbaren Tugend geworden sind. Dass der Reisende bei den Sesshaften auf wenig Gegenliebe stößt, ist spätestens seit Kains und Abels Zeiten bekannt. Der immerwährende Gegensatz der Lebensentwürfe spiegelt sich in der im Totschlag gipfelnden Geschichte vom Mann der Scholle, dem Erbauer und Herrn der Stadt und dem umherziehenden Hirten, dem ewig wandernden Entdecker wider.
Für den Reisenden entsteht der Tag stets aufs Neue; als sei es der erste Tag. So versucht er die Zeit zu bändigen, indem alles Anfang ist und nichts Ende. Mit der Beschleunigung seiner Bewegung zerstört der Reisende die Wirklichkeit der Welt. Er wird, wie Virilo sagt, zum Voyeur der Reise selbst. Nähe und Ferne verlieren ihre Unterscheidbarkeit. In der Bewegung wird, was nahe ist, fern, was fern ist, nah, was real ist, irreal, und das Irreale wird real. Der Bewegte selbst unterliegt der Täuschung des Stillstandes, das Stillstehende (die vorübergehende Landschaft im Fenster des Zugs wie das Bild auf einem Monitor) der Täuschung der Bewegung. Der Reisende ist als Voyeur seiner eigenen Reise, als Jongleur der Distanz, immer auch ein möglicher Akteur in der Tragödie des schicksalhaften Endes seiner Reise. Wenn die beliebten letzten Takte der Bordkapelle ›Näher zu dir, mein Gott‹ erklingen, wird der Schiffsuntergang zum inszenierten Ritual einer ausklingenden Reise. Der Reisende hat endgültig seinen Platz im Kino eingenommen, nicht er, sondern die Welt, der er unaufhörlich entgegenreiste, ist nun bei ihm angekommen.
Nachtrag: Paul Cezanne mahnt: ›Man muss sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will. Alles verschwindet.‹ Je mehr man sich jedoch beeilt, desto mehr verschwindet alles um einen herum. Am Ende entschwindet der Reisende selbst. Die Reise ist nicht zuletzt die Kunst des Entschwindens.