In Zeiten der Coronakrise sind auch Meinungsforscher gefragt. Sora hat einen Auftrag der Regierung erhalten. Um was ging es dabei?
Letztlich ging es darum, die Dunkelziffer von der Krankheit bereits erfasster Personen zu erfassen und damit der Bundesregierung weiteres Datenmaterial für die nötigen Maßnahmen zur Verfügung zu stellen. Natürlich haben wir uns von vielen Seiten beraten lassen: Virologen und Epidemiologen, Simulationsmodell-Experten, Sozialwissenschaftler.
Was kann man zum Ergebnis sagen?
Das Resultat der gerichteten Berechnungen war ein Anteil von 0,33 Prozent akut Infizierter Anfang April. Umgelegt auf die Gesamt-Bevölkerung waren das 28.500.
Was werden die möglichen Konsequenzen aus den Ergebnissen eurer COVID-19 Studie sein?
Unsere Studie ist ein Mosaikstein von vielen, um diese Epidemie besser zu verstehen. Es gibt immer noch zehntausende akute Fälle, zum Untersuchungszeitpunkt waren es mehr als dreimal so viel als die von der offiziellen Statistik erfassten. Viele haben den Schluss gezogen, dass wir noch keine sogenannte ›Herden-Immunität‹ erreicht haben — das wäre der Zustand, dass viele bereits Antikörper haben und die Epidemie dann sich nicht mehr exponentiell ausbreiten kann. Dazu braucht es aber noch weitere Untersuchungen. Aber: Alle Politiker stehen in den letzten Wochen und wohl auch weiterhin vor sehr schwierigen Entscheidungen. Dass Menschen nicht an Corona sterben, ist natürlich ein enorm wichtiges Ziel — aber wir müssen gleichzeitig darauf schauen, dass Menschen nicht durch die enormen wirtschaftlichen Herausforderungen krank werden oder sogar sterben. Das kann nie durch Expertisen allein abgewogen werden, das ist die im Moment unglaublich fordernde Aufgabe der Politik.
Nach letzten Umfragen scheint die Zustimmung zu den Regierungsparteien trotz rigider Maßnahmen im Zuge der Krise stark gewachsen, die Oppositionsparteien hingegen scheinen durch die Krise zu verlieren. Wie erklärst du dir dieses Phänomen?
Das Phänomen heißt ›Rally ’round the flag effect‹ und ist wohlbekannt in der Politikforschung, vor allem, wenn ein Staat Krieg führt. Jetzt führen wir eben einen Krieg gegen die Folgen eines Virus. Die Menschen wollen jetzt ihren politischen Führungspersönlichkeiten vertrauen, auch weil das Gefühl schwer erträglich ist, durch so eine schwierige Situation von inkompetenten Amtsträgern navigiert zu werden. Wenn es im Flugzeug Turbulenzen gibt, hoffen wir ja auch, dass die Crew im Cockpit ihr Handwerk versteht. Was dazukommt, dass klassische politische Streitfragen im Moment wenig eine Rolle spielen. Das wird sich aber wieder rasch ändern.
Ist Meinungsforschung nicht im natürlichen Clinch mit Datenschutz?
Die Umfrage-Branche insgesamt geht sorgfältig mit dem Schutz persönlicher Daten um. Mit der europäischen Datenschutz-Grundverordnung gibt es klare Regeln, und weil heute an allen Ecken und Enden immer mehr Daten produziert werden, ist ein sorgsamer Umgang damit im Sinne der Bürger. Bei dieser Studie geht es um Gesundheit und daher um sensible Daten. Hier waren wir natürlich besonders streng. Aber sollte jemand unsere Daten entwenden, hätte er keine Chance, Rückschlüsse auf einzelne Personen zu ziehen.
Nun zur Treffgenauigkeit von Demoskopie im Allgemeinen. In den 1950er und 1960er Jahren war etwa das Wahlverhalten von Menschen noch wesentlich stabiler und besser einzuschätzen. Obwohl man von Menschen mehr weiß (›gläserner Mensch‹), scheint er schwerer einzustufen. Was hat sich gesellschaftlich verändert?
Früher gab es ja noch so was wie die großen ›Klassen‹: Arbeiter wählten rot, Bauern und Unternehmer wählten schwarz. Viele Menschen übten ihr Leben lang den gleichen Beruf aus. Schon zu Kreiskys Zeiten wurde die Gesellschaft aber mobiler — man hatte einfach nicht mehr seinen fixen Platz. Oder man hatte ihn, aber Angst, ihn zu verlieren oder dafür nicht mehr respektiert zu werden. Heute sind die Wähler viel weniger an Parteien gebunden, sie sind ›volatiler‹. Auch wenn wir hunderte Dinge über einen gläsernen Menschen wüssten, können wir nicht leicht daraus ableiten, wie er oder sie wählen würde. Auch weil viele gesellschaftlichen Gruppen heute oft zwei oder mehr Optionen haben. Neos und ÖVP rittern um Unternehmer, SPÖ und FPÖ um Arbeiter. Bei denen mischt die ÖVP mit, während die Grünen wegen der Klimakrise jetzt auch bei der jungen Bevölkerung am Land, wo sie früher nicht existent waren, punkten können. Meine Prognose, die nicht sehr mutig ist: Es wird weiter turbulent bleiben.
Gab es ein Ereignis, das erstmals dein Interesse für Meinungsforschung geweckt hat? War Politik ein Thema in deiner Familie und warst du schon als Kind ein Zahlenmensch?
Als ich elf Jahr alt war, haben wir uns alle vor dem Fernseher versammelt, um die Zwentendorf-Hochrechnung anzusehen. Wir waren alle gegen die Atomkraft, und das war natürlich spannend wie ein Länderspiel. Und da stand dieser Professor Bruckmann mit seinen dicken Brillen, der das so genau vorhergesagt hat. Ich war ein eher schüchternes Kind mit ebenso dicken Brillen und hab mir damals gedacht, auch für so jemanden wie mich gibt es vielleicht ›fifteen minutes of fame‹.
Gibt es den wirklich großen Gegensatz zwischen den ›anywheres‹ und den ›somewheres‹, und erklärt sich daraus auch der Erfolg der Populisten?
Ein Erklärungsansatz für wachsenden Populismus ist: Es gibt Menschen, die mit der steigenden Internationalisierung von Märkten und Migrationsströmen recht gut umgehen können, das sind die ›anywheres‹. Es gibt aber auch Menschen, für die die derzeitige Situation wirtschaftlich oder kulturell bedrohlich ist, das sind die ›somewheres‹. Diese teils echte, teils gefühlte Bedrohung schildern Rechtspopulisten so, als hätten sich die Eliten gegen ›das wahre Volk‹ verschworen. Die Wirklichkeit ist natürlich viel komplexer. Manche Arbeiter hätten ohne internationale Verflechtung längst keinen Job mehr. Und manche studierte Grafiker in Bobo-Bezirken leiden unter der Konkurrenz des globalen Crowdworking.