›Nudes‹, Spencer Tunicks bislang größte Einzelausstellung, gewährt einen Überblick über die Entwicklung seines Werkes seit den Anfängen in den frühen 1990er-Jahren mit Aktaufnahmen einzelner Personen in urbanem Umfeld bis hin zu seinen in den letzten Jahren durchgeführten Arbeiten mit Massenszenen Tausender nackter Menschen. Dabei wendete sich Tunick zunehmend von intimen Bildern individueller Persönlichkeiten seinen Komplexen und einzigartigen Massenszenen kollektiver Ansammlungen von nackten Menschen in öffentlichen Räumen zu.
Ein wesentlicher Wendepunkt in seinem Werk stellte dabei sein Wiener Projekt 1999 dar, das ihm erstmals ermöglichte, seinen Traum einer großen Ansammlung von Nackten mit Unterstützung einer Institution und einer offiziellen Genehmigung öffentlicher Behörden durchzuführen. Vorangegangen war dieser Aktion, für die sich in den frühen Morgenstunden eines bereits recht kühlen Oktobertages mehr als 300 Menschen auszogen, eine Reise des Wiener Bürgermeisters mit einer Kulturdelegation, der auch ich zugehören durfte, nach New York. Noch heute schwärmt Spencer Tunick von der Reaktion des Wiener Bürgermeisters Häupl, als dieser hörte, dass Tunick im Zuge einer seiner Aktionen in New York auf Geheiß des New Yorker Bürgermeisters Guiliani verhaftet wurde: ›Er sagte zu mir: ,Kommen Sie nach Wien, bei uns werden Künstler für großartige Ideen nicht verhaftet, sondern gefeiert‹. Und als ich dann von der Kunsthalle eingeladen wurde und er für mich die Straße vor der Kunsthalle sperren ließ, liebte ich Wien.‹
Mit dem Titel ›Nudes‹ verweist die Ausstellung auf die lange kunsthistorische Tradition des Genres des Akts hin, eine Tradition, die durch Tunicks performative Installationen eine Erweiterung um Elemente der Landschaft, des Stilllebens und des Skulpturalen sowie eine politisch-kritische Dimension erfahren hat. Tunick begann 1992, nackte Menschen in den Straßen von New York zu fotografieren. Mit seinen Aufnahmen wurde er rasch in den Vereinigten Staaten bekannt, zumal er mit seinen Arbeiten im öffentlichen Raum provozierte und nach einer Aktion am Times Square vorübergehend festgenommen wurde. Seit Mitte der 1990er-Jahre hat Tunick weltweit vergleichbare Kunstaktionen inszeniert — unter anderem in Sydney, New York, London, Barcelona, Wien und Düsseldorf sowie auf einem Schweizer Gletscher — und Tausende Menschen abgebildet. Seine Arbeiten nennt Tunick ›lebende Skulpturen‹ oder ›Körperlandschaften‹. Die bisher größte Menschenmenge fotografierte er in Mexiko-Stadt — auf dem Zócalo, dem Hauptplatz der Stadt, posierten 18.000 Nackte für den Künstler. Eine Aktion, die mit einer ungeheuren logistischen Leistung verbunden war. Spencer erzählt, dass ›es nicht nur extrem schwierig‹ war, ›die Genehmigung des mexikanischen Präsidenten zu erhalten — das Projekt fand ja vor dem Präsidentenpalast und der Kathedrale statt —, es war auch ein ungeheures logistisches Unterfangen, das Ausziehen, Wiederfinden und Anziehen derartiger Menschenansammlungen zu organisieren‹.
Tunicks Arbeiten sind nicht nur spektakulär und medienwirksam, sie entfalten auch gesellschaftskritische Wirkung. So diente seine in Kooperation mit Greenpeace durchgeführte Aktion am Schweizer Aletschgletscher dazu, auf den dramatischen Rückgang der Gletscher durch die globale Erwärmung weltweit aufmerksam zu machen. 600 Menschen, darunter viele Umweltaktivisten, ließen auf dem Gletscher im Süden der Schweiz für den Klimaschutz die Hüllen fallen. Mit Fotos von hundert nackten Frauen protestierte Tunick auch gegen die Nominierung Donald Trumps zum Präsidentschaftskandidaten der Republikaner. Einen Tag vor dem Beginn des Nominierungsparteitags lichtete Tunick die Frauen unterschiedlicher Hautfarbe in Sichtweite der Halle in Cleveland ab, in der der Nominierungsparteitag der Partei stattfand. Die Frauen hielten während der Aufnahmen große, runde Spiegel in Richtung der Veranstaltungshalle hoch. Die Reflektoren reflektierten für Tunick das Wissen und die Weisheit fortschrittlicher Frauen und das Konzept von ›Mutter Natur‹ auf die Halle, das Stadtbild und den Horizont von Cleveland.
Tunicks Models arbeiten bei seinen von ihm in Fotografien und Videos dokumentierten Körperinstallationen ohne Gage. Zum Dank für ihre Teilnahme erhalten sie ein signiertes oder mit seiner Signatur bedrucktes und in limitierter Auflage produziertes Foto der Installation. Seine Bilder sind weniger Aktfotos als vielmehr temporäre Interventionen ephemerer Landschaftsskulpturen. Für Tunick hat ›der Körper und insbesondere die Idee der Nacktheit in einer großen Masse von Menschen eine unglaubliche Kraft‹ und kann ein mächtiges Instrument für Veränderung darstellen. Tunick stellt sie in einen Zusammenhang mit ›participatory art‹, wie sie in den 1960er-Jahren entstand: ›Nicht viele Künstler lassen Menschen Teil eines Kunstwerks werden. Meist muss man Eintritt zahlen, um Kunstwerke zu sehen. Und dann ist man nur Betrachter. Aber momentan gibt es Ansätze, dass Mitwirkung zur Kunst selbst wird.‹
Tunicks ›Installationen‹ stehen in der Tradition der Happenings und Performances, die sich in den Sechzigern als eigene Kunstform etablierten und in den vergangenen zehn Jahren ein großes Revival erlebten. Der nackte Körper ist eines ihrer wichtigsten Motive. Doch nicht die Themen Hunger, Entblößung und Selbstverletzung, wie man sie von den Avantgardisten von damals kennt, stehen für Tunick im Vordergrund, vielmehr geht es um ein gemeinschaftlich erlebtes Gefühl der Befreiung, das Menschen erleben, wenn sie sich im Schutz ebenso nackter Mitmenschen öffentlich zeigen.
Tunick ist längst zum Meisterarrangeur von Massenszenen geworden. Dabei reichen ihm meist Vorabmeldungen in der lokalen Presse aus, um die oft vielen Tausend Mitwirkenden zu mobilisieren. Die finden sich dann am frühen Morgen an einem zentralen Platz ein wie etwa vor dem Times Square in New York oder dem Platz vor der Münchner Oper. Tunick weist ihnen per Megafon ihre Positionen zu. Dabei erweist er sich als überzeugender und gleichzeitig einfühlsamer Regisseur, der seinen Bildern aus der Wechselwirkung von Plan, Choreografie und Spontanität ihre Suggestivität und Kraft gibt.