Der James Dean der Märtyrergeschichte

Der James Dean der Märtyrergeschichte

Barocker Exzess bis asketische Strenge markieren den Weg des heiligen Sebastian, ein Heiliger, der wie kein anderer voll Inbrunst zu schmachten vermag. Seine Bilder rauschen bisweilen so billig wie tränenschwangerer Anzengruberscher Gefühlskitsch, seine Geschichte bietet den Stoff für ein blutrotes Melodram aus Hollywoods Mythenschmiede. Sebastian, der tugendhaft-pietistisch Verklärte, empfängt im Firnisglanz weltentrückt den Pfeilsegen seiner Soldaten. Sebastian, der anämische Nazarenerjüngling, wurde über die Jahrhunderte willkommene Beute des Voyeurismus einer lieblich verbrämten akademischen Aktmalerei. Guido Reni, der große Barockmaler und Meister dunkler Atmosphären, taucht seinen Sebastian, den fleischlich-hedonistischen Masochisten und lustvollen Ekstatiker, in wolllüstiges Clair-obscur. Sebastian, der fotorealistisch schmerzgebeugte Gemarterte, genießt sein Leid, und der italienische ›poeta totale‹ Gabriele D’Annunzio lässt ihn im Todeskampfe rufen: ›Was will ich sonst als brennen.‹ Sebastian ist ein sterbender Adonis, ein Narziss, der den Tod dem sicheren Verfall vorzieht. Sebastian, der Frauen- und Männerherzen betört, verehrt von Literaten wie Oskar Wilde oder Thomas Mann, der in seinem ›Tod in Venedig‹ von ›der Wollust des Untergangs‹ schwärmt, ist der James Dean der Märtyrergeschichte.

Der Plot: Der heilige Sebastian, Hauptmann der Prätorianergarde, der Elitetruppe des römischen Kaisers, wird wegen seines Glaubens von Kaiser Dio-kletian zum Tode verurteilt und von seinen eigenen Soldaten exekutiert. Er überlebt den Pfeilregen und wird von der heiligen Irene gesundgepflegt. Als er wiederum seinen Glauben bekennt, wird er gesteinigt und in die Cloaca maxima geworfen. Sebastian gab auch die Gelegenheit, einen schönen, fast unbekleideten jungen Mann darzustellen. Als sadomasochistische Ikone und todesverliebter androgyner Dandy, dessen Schönheit sich in der Agonie zu voller Pracht entfaltet, scheute Sebastian auch keinen Skandal: Fra Bartolomeos reizende und sinnliche Darstellung des Heiligen wurde von den Mönchen abgehängt und aus der Kirche entfernt, aus Angst, sie könnte bei Frauen sündige Gedanken hervorrufen. Auch die Uraufführung des Singspiels ›Le Martyre de Saint Sebastien‹ von Gabriele D’Annunzio und Claude Debussy geriet 1911 in Paris zum handfesten Skandal, weil Ida Rubinstein, eine russisch-jüdische Tänzerin, den christlichen Heiligen spielte. Der Erzbischof drohte den Besuchern des fünfteiligen Ballet sacre, das Parallelen zwischen dem christlichen Märtyrer und dem — einem inzestuösen Verhältnis entstammenden — Halbgott Adonis zieht, mit Exkommunikation.

Der heilige Sebastian zieht, als polymorphe Projektion menschlicher Obsessionen, von Botticelli über Perugino, Rembrandt und Egon Schiele bis Keith Haring eine Spur der Schönheit, des Schmerzes und der Lust durch Jahrhunderte der Kunstgeschichte. Sebastian verkörpert auch den exemplarisch für die Gesellschaft leidenden Künstler (Susan Sontag). Sebastians Karriere führt den Schutzpatron der Soldaten und Pestkranken am Ende des 20. Jahrhunderts bis zum Heiligen der Homosexuellen und Aidskranken.

Sebastian erbittet seinen Tod von seinen Soldaten. Als sich seine numibischen Schützen weigern, die Exekution zu beginnen und ihre Pfeile in seinen Körper zu jagen, ruft er ihnen in D’Annunzios Stück zu: ›Wenn ihr mich liebt, dann tötet mich.‹ Wer Angst und Schmerz überwindet, der ist Sieger, Triumphator. Leid und Tod sind die unverzichtbaren Zutaten auf dem Weg zum Heiligen. Wenn der englische Philosoph Walter Pater die Menschen als zum Tode Verurteilte ansieht, mit einer Frist, die sie voller Leidenschaft oder in dahinwelkender Lethargie verbringen können, ist es Sebastian, der den Märtyrertod als letzte große sinnliche Erfahrung, als Moment höchster körperlicher und geistiger Intensität auskostet.

Die Geschichte des heiligen Sebastian ist eine Reise zum Mittelpunkt des Schmerzes. In ihr werden das Heilige und das Profane, Transzendenz und Laster in immer neuen Verhältnissen gemischt. Auch Vorarlbergs Sebastiane sind eine Reise wert. Empfohlen sei sowohl der Besuch der Wallfahrtskapelle Unsere Liebe Frau in Vens aus dem Jahr 1697 als auch die Besichtigung der wundervollen, am Jakobsweg gelegenen Sebastiankirche von Ludesch sowie des 1638 erbauten kirchlichen Kleinods der Sebastiankapelle in Andelsbuch-Buchen. Nach einer Visite der St.-Sebastian-Kirchen in Dornbirn und Hard sei noch ein Abstecher in die Galluskirche in Bregenz gemacht — nahezu versteckt, als Seitenfigur des schwarz glitzernden Silberaltars, strahlt uns dort aus dem Halbdunkel eine kleine Sebastianstatue entgegen.

Wer am Ende der kleinen Exkursion durch Vorarlbergs schönste Sebastianskirchen und -darstellungen angelangt ist und dabei auch die undomestizierten Landschaften seiner Vorstellungskraft erkundet hat, dem empfiehlt es sich, noch Rainer Maria Rilkes Gedicht über den heiligen Sebastian zu studieren: ›Und die Pfeile kommen: jetzt und jetzt / als sprängen sie aus seinen Lenden.‹

PS: Mein Lieblings-Sebastian ist von Andrea Mantegna und befindet sich im Kunsthistorischen Museum in Wien. Anschauen!