Das Drama ist ein Leben,
aus dem man die langweiligen Momente
herausgeschnitten hat

Das Drama ist ein Leben, aus dem man die langweiligen Momente herausgeschnitten hat

Die Vögel. (›The Birds‹, 1963.) Die junge Melanie kauft in einer Tierhandlung ein Paar Lovebirds und will sie zu einem Mann, dem Sie zuvor begegnet ist, in sein Ferienhaus an der Küste bringen. Noch ist alles ruhig, banaler Alltag. Da attackiert aus heiterem Himmel eine Möwe Melanie. Vogelschwärme sammeln sich und kreisen über den Menschen. Das Drama nimmt seinen Lauf, und am Ende versammeln sich die Überlebenden wie nach einem verheerenden Bombenangriff. Verwirrt und verlassen. Happyend oder nur Atempause, das lässt Hitchcock, der uns Zuseher filmisch in die Perspektive der Vögel versetzt, offen.

Das Fenster zum Hof. (›Rear window‹, 1954) Ein Mann, James Stewart, mit eingegipstem Bein am geöffneten Fenster, schaut in einen Hinterhof. Es dämmert, die angehenden Lichter in den Wohnungen machen das Leben der Menschen zur Bühne. In der Beobachtung eines Mordes findet der Voyeur seine Belohnung. Indem uns Hitchcock quasi über die Schulter des Beobachters sehen lässt, macht er uns zu dessen Komplizen. Der Voyeur beobachtet das Verbrechen, wir beobachten den Voyeur. ›Das Fenster zum Hof‹ ist ein virtuoses Kammerspiel um Wirklichkeit und Fiktion, um die Welt und um mich, der Verdoppelungen und Perspektiven.

Psycho. (1960) Marion hat für ihren Geliebten Geld unterschlagen und entschließt sich zur Flucht. Eine Flucht, die in Norman Bates Motel in der berühmten Duschszene, wohl ein filmischer Geniestreich, ihr tödliches Ende findet. Vom Opfer wendet sich Hitchcock nun dem Täter zu. Der Psychopath Bates, meisterhaft verkörpert von Anthony Perkins, hatte schon vor längerem seine Mutter getötet. Mit ihren einem Gespenst gleichenden Überresten führt er im Keller Selbstgespräche. Was wirklich erscheint, ist nur Camouflage des Wahnsinns, Schicksal ist Zufall, Hoffnung ist Illusion und Vergangenheit ein Meister der Gegenwart. Der Alltag kippt in ein Grauen. Schreckmomente.

Fremde im Zug. (›Strangers on a train‹, 1951) Eine zufällige Begegnung zweier Männer im Zug: Beide suchen Erlösung aus ihren sie fesselnden Lebenssituationen. Der eine schlägt dem anderen vor, seine Frau zu töten, wenn diese sich um das Ableben seines Vaters kümmert: ›Some people are better off dead.‹ Auch wenn sich so keine Spur zum Täter finden lässt, scheitert der Plan. Als Zuseher finden wir uns im Spiel auf Leben und Tod in der Rolle von Täter und Opfer wieder. Und die Schuld trifft auch den der beiden, der nicht tötet.

Schwindel. (›Vertigo‹, 1957), das Meisterwerk Hitchcocks: Der Detektiv verliebt sich in eine Frau, Madeleine, die er observiert. Er kann es jedoch nicht verhindern, dass die geheimnisvolle Seelenkranke vom Turm einer Kirche in den vermeintlichen Tod springt. Nur der Zuseher weiß, dass ihr Selbstmord nur vorgetäuscht ist. Auch hier spielt Hitchcock virtuos mit Verdoppelung, konstruierten Identitäten, der eines gescheiterten Helden, mit der Umkehr von Täter- und Opferbeziehung. Wieder sind wir Voyeur der Verwandlung, von Verführerin und Verführter und der Vergeblichkeit der Liebe.

Der unsichtbare Dritte. (›North by Northwest‹, 1958): Der Held, ein Werbemanager (Cary Grant) wird für einen anderen gehalten, Agenten verfolgen ihn. Das Unheil, begleitet von einer gefährlichen, anziehenden Blondine, nimmt seinen unvermeidlichen Lauf. Bald wird Grant auch wegen Mordes gesucht. Eine berühmte Schlüsselszene des Films ist der Beschuss des Helden von einem Flugzeug aus, der einsam auf einem Getreidefeld — ohne jede musikalische Begleitung — um sein Leben rennt. Auch in ›North by Northwest‹ spielt Hitchcock mit Identitäts- und Rollentausch, kippen der Alltag und vertraute Normalität in einen wahnwitzigen Fiebertraum.

Die Auflösung der Grenzen

Hitchcocks Männer sind selten Helden, im Gegenteil, ihre Identitäten sind brüchig. Hinter ihrer Normalität lauern der Wahnsinn und das Böse, und wenn sie Siegertypen sind wie Cary Grant, dann brechen sie ihren Erfolg mit Ironie oder verlieren vorübergehend die Kontrolle über ihr Leben. Die herkömmliche Rollenverteilung zwischen Mann und Frau stellt Hitchcock in vielen seiner Filme auf den Kopf. Hitchcocks Frauen, meist kühl, blond, geheimnisvoll und erotisch-attraktiv (von Ingrid Bergmann über Eve Marie Saint bis Grace Kelly), sind stärker als die Männer, verführerisch und selbstbewusst. Sie dominieren das Geschehen und können es zum Bösen oder Guten wenden.

Hitchcocks Welt ist eine Welt der doppelten Böden und des Schwindels, der multiplen Identitäten, der Verdoppelung und des Voyeurismus und der Auflösung der Grenzen von Gut und Böse, Täter und Opfer, Schuld und Sühne. Seine Welt erscheint als Falle, in der die Vergangenheit die Zukunft, das Unterbewusste das Verhalten und der Zufall das Schicksal bestimmen.

Hinter der Fassade von Glück und Normalität türmen sich die Pathologie verletzter Seelen, lauern Horror und Verbrechen. Hitchcocks Protagonisten kämpfen sich durch eine Welt, die sich gegen sie verkehrt hat, die sie nicht mehr verstehen, in der sie plötzlich zum Außenseiter, Verfolgten oder Täter werden. Und nur Hitchcock kann die aus dem Lot geratenen Leben wieder kitten, alle gerade noch einmal davonkommen lassen. Er allein weiß, was geschieht und lässt uns Zuseher immer wieder neben sich Platz nehmen, weiht uns ein, um uns zugleich wieder zu verwirren, ja zu erschrecken.

Der Meister des Suspense entführt seine Figuren aus ihrem Alltag und ihrer bisherigen Identität in die obsessive Welt seiner Albtraumfabrik, an deren Kontrollverlust und den damit verbundenen Ängsten der Existenzvernichtung wir Zuseher mitleiden. Auch wenn seine Figuren sich als unschuldig verfolgt erweisen, so sind sie nur unschuldig, aber nur in Bezug auf das, was man ihnen vorwirft.

Virtuos verdichtet der Meister Licht, Farbe, Musik, Geräusche, Bild, Schnitt und Ton zu einer Atmosphäre einer unentrinnbaren Spannung. Hitchcock beschrieb selbst seine Kunst des Filmemachens einfach: ›Das Drama ist ein Leben, aus dem man die langweiligen Momente herausgeschnitten hat.‹