Cafe Sybille

Cafe Sybille

An der Karl-Marx-Allee, dem sozialistischen Prachtboulevard, erbaute die DDR ihre Paläste für die Arbeiter in stalinistischer Zuckergussarchitektur. Das Caféhaus des Viertels hieß Café Sibylle. Der Name bezog sich auf die in der DDR populäre Frauenzeitschrift ›Sibylle‹, da im Café regelmäßig Treffen von Redakteuren und Models sowie Modenschauen stattfanden. ›Sybille‹, die Zeitschrift für Mode und Kultur‹, erschien 1956 erstmals und war über drei Dekaden die führende Modezeitschrift der DDR. Sie wurde vom Modeinstitut Berlin herausgegeben und galt als Ost-Vogue. Die ›Sibylle‹ lieferte den Stoff und vor allem auch die Schnittmuster zu den Träumen: So attraktiv die fotografierte Mode uns heute erscheint, so übersichtlich und kümmerlich war das Angebot in den Geschäften. Es galt die Devise: Selbst ist die Frau. Die gezeigte Mode war so oft mehr Anregung zum Selbermachen als Kaufwerbung. ›Sibylle‹ lieferte auch sozialistischen Lifestyle, und dies journalistisch niveauvoll, mit Kunst, Literatur, Reisen und Theater, Porträts, Essays und Interviews mit interessanten Persönlichkeiten.

Spaßtöter wie Abnehm- und Diättipps hingegen fanden ihren Weg nicht ins Magazin. ›Ich verspreche Ihnen, dass ich meine Augen überall haben werde – in Prag und Florenz, in Warschau und Wien, in Moskau und New York, in Peking und London – und immer wieder in Paris. Natürlich weiß ich sehr gut, dass Sie in der Vergangenheit ein wenig, na, sagen wir: stiefmütterlich behandelt worden sind. Da gab es nicht immer das zu kaufen, was Sie wollten, und was es zu kaufen gab, wollten Sie nicht…‹, schreibt Sibylle Gerstner, die Gründerin des Magazins, deren Namen das Heft zierte, in der ersten Ausgabe 1956 an ihre Leserinnen.

Doch die Ausflüge in die Welt des Luxus und der Mode fanden ihre Grenzen. Ausgaben, die Blue Jeans oder gar zu gewagte Miniröcke propagierten, fanden nicht die Gnade der Regimezensur und gingen gar nicht erst in Druck. So wurde Sibylle Gerstner, die Modegestaltung und Malerei in Berlin und Wien studiert hatte, sechs Jahre nach der Ersterscheinung auch aus der Redaktion gedrängt. Der Vorwurf an sie lautete, ihr Stil sei zu französisch, zu verspielt. Für die ›Sibylle‹ arbeiteten von Beginn an die besten Fotografinnen Ostdeutschlands, unter anderem die Starfotografinnen Ute Mahler, Sybille Bergemann und Evelyn Richter. Ihre Mode- und Alltagsfotografien sind wie jene der dokumentarischen Arbeiten der Fotografin Gundula Schulze dem DDR-Alltag verpflichtet.

In ihnen spiegeln sich sowohl die gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Befindlichkeiten der DDR als auch die Wünsche und Sehnsüchte ihrer ›Bürgerinnen‹ wider. Es sind Bilder voller Atmosphäre, mit außergewöhnlichen Bildideen und meisterhaften Kompositionen. Sie zeigen Mode für selbstbewusste, berufstätige und emanzipierte Frauen, ein Frauenbild fernab von alten Klischees. Die berührenden Bilder der Ausstellung gehen so über reine Modefotografie hin­aus, sind ästhetische Zwitter zwischen Porträt, Reportage und Mode. Die Fotografinnen der Ausstellung arbeiteten und inszenierten nur selten im Studio. Sie arbeiteten auf öffentlichen Plätzen, Straßen und oft tristen Hinterhöfen oder vor grauen Fabrikanlagen.

Sibylle Bergemann war als Mitglied der Gruppe ›Direkt‹ freischaffende Fotografin. Ihre Arbeiten erschienenen erstmals 1969 in der Wochenzeitung ›Sonntag‹ und ab 1973 im Magazin der Modezeitschrift ›Sibylle‹. Von 1975 bis 1986 erstellte sie, in geradezu ironisch anmutenden Bildern, als mehrjährige Auftragsarbeit des Ministeriums für Kultur eine Fotodokumentation über die Entstehung des Marx-Engelsforum in Berlin. Ihre Wohnung war ein beliebter Treffpunkt von DDR-Fotografen und vieler international bekannter Fotografen wie etwa Henri Cartier-Bresson, Helmut Newton und Robert Frank. Über mehr als vier Jahrzehnte schuf die Berlinerin ein außergewöhnliches Werk aus Stadt-, Mode- und Porträtaufnahmen sowie essayistischen Bildreportagen. Berühmt wurden ihre Mode-Fotos für die ›Sibylle‹: Frauen in avantgardistisch-aggressiv anmutender Kleidung, oft entworfen durch die ›Gruppe Allerleirauh‹. Ihre Models stehen vor Industrieruinen, vor rauchenden Schloten, blicken ernst und streng in die Kamera. Mit ihrer gleichermaßen subjektiven wie geheimnisvollen Fotografie war Sibylle Bergemann eine Meisterin darin, vor allem Atmosphäre ins Bild zu setzen. Verboten wurden Bergemanns Bilder in der DDR nie, nur gelegentlich nicht gedruckt. Sie war auch mit Ute Mahler 1990 eine der Gründerinnen der Foto-Agentur ›Ostkreuz‹.

Ute Mahler studierte nach ihrem Abitur und einem Volontariat bei der DEWAG, einem SED-eigenen Monopolbetrieb für Werbung, in Leipzig Fotografie. Seit 1975 arbeitete Mahler als selbstständige Fotografin, unter anderem für die ›Sybille‹ und nach der Wende für den ›Stern‹. Schon zu Zeiten der DDR zählten Bilder von Ute und ihrem Mann Werner Mahler zu den Ikonen der DDR-Fotografie. Die Frauenzeitschrift ›Sibylle‹ wurde zu ihrem ›Echoraum der Träume‹. Ute Mahler präsentierte ihre Frauen stark, schön und klug. Manche ihrer Bilder hatten sogar Einfluss auf das Leben jenseits der Lichtbildnerei. Ihr berühmtestes Bild – eine voll bekleidete Frau im See, die sich das Wasser aus den nassen Haaren wringt – war so populär, dass nach dessen Veröffentlichung Anfang der Achtziger der Name des Models, Julia, in der DDR lange zum beliebtesten Namen für neugeborene Mädchen wurde. In der Entscheidung für gerade jene Augenblicke, in denen eine Situation unbestimmt und offen ist, uns vielleicht überrascht, manchmal sogar rätselhaft betrifft und innere Gefühlslagen anspricht, überschreitet Ute Mahler die Grenzen reiner Bildreportage.

Auch Evelyn Richter zählte zu den Stammfotografinnen der ›Sibylle‹. Nach einer Fotoausbildung arbeitete sie als Laborantin bei den Vereinigten Gewerbestätten Dresden und als Fotografin an der TU Dresden. 1955 wurde sie von ihrem Studium der Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig exmatrikuliert, da den Hochschulfunktionären die Porträts ihrer Mitstudentinnen und Studenten zu defätistisch und zu wenig parteikonform waren. Zwischen 1956 und 1959 war sie Mitglied der oppositionellen Vereinigung ›action fotografie‹ in Leipzig. Dennoch konnte sie ab 1980 freischaffend als Werbe- und Theaterfotografin sowie Bildredakteurin für Messen arbeiten. Richter setzte ostdeutsche Lebenswelten so kritisch wie empathisch ins Bild und stellte dabei stets den Menschen ins Zentrum ihrer Betrachtung. Ihr künstlerisch-dokumentarisches Werk verstand sie in Opposition zu den politisch gewollten Bildern der Zeit.

Statt Aufbruch, Utopie und Verherrlichung des Sozialismus stellt Richter in kritischer Weise die Gesellschaft ihrer Heimat dar. Richter wollte widerspiegeln, was wirklich ist; sie schreckte nicht davor zurück, triste und bedrückende Lebensverhältnisse zu schildern. Im Mittelpunkt ihrer Arbeiten stand der Alltag, Menschen im Transit, in Zügen und S-Bahnen, bei der Arbeit, in der Ausbildung und Freizeit, aber auch Künstler und Künstlerinnen, Musikerinnen und Musiker in Aktion. Ab 1981 lehrte sie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) in Leipzig, nach der Wende an der Fachhochschule Bielefeld. Evelyn Richter starb 2021.

Gundula Schulze Eldowy studierte wie Ute Mahler Fotografie in Leipzig. Sie arbeitete seit 1977 als Fotografin, wobei auch ihre Arbeit immer wieder das Missfallen der Behörden erregte. Ihre Werke aus den 1970er- und 1980er-Jahren zählen zu den wichtigsten Zeugnissen des Alltags der DDR. Viele ihrer Arbeiten fangen mit ihrem direkten, schonungslosen Blick das Privatleben anderer ein, darunter die Lebensbedingungen jener, die am sozialen Rande lebten und in den idealisierten Bildern der sozialistischen Gesellschaft keinen Platz hatten. Ihre Motive findet die Fotografin in der Nachbarschaft oder beim Einkaufen. Vor allem Berlins Mitte, die noch lange die Spuren des Krieges trägt, bildet die Kulisse für ihre Bilder. ›Ich erinnere mich, ich bin durch die Mulackstraße gegangen, da ging die Tür von einer Kneipe auf. Da stand der Dicke vor mir, der nahm den ganzen Türrahmen ein. Die meisten waren, das muss ich sagen, so völlig anders, als die DDR sich selbst präsentierte. Sie waren komplett authentisch, voller Humor, voller Witz und überhaupt nicht festgelegt auf irgendetwas. Das hat mir so gut gefallen an ihnen. Ich war genauso.‹ 1985 begegnete sie Robert Frank, der sie förderte und nach New York einlud, wo sie von 1990 bis 1993 lebte. Das war der Beginn ausgedehnter Reisen, die ihren Niederschlag auch in ihrer fotografischen Arbeit fanden.

Die fotografischen Werke von vier herausragenden Fotokünstlerinnen lassen die Ausstellung ›Café Sibylle‹ zu einem schillernden Kaleidoskop der Träume und des Alltags der vergangenen Deutschen Demokratischen Republik und ihrer Gesellschaft werden.