Carlo Mollino. Als Automobildesigner transformierte er einen weiblichen Torso in einen knallroten Rennwagen namens Bisiluro [Doppel-Torpedo], mit dem er 1955 am legendären 24-Stunden-Rennen von Le Mans teilnahm. Die Beletage einer Turiner Villa, in der er keine einzige Nacht verbrachte und von deren Existenz nicht einmal seine besten Freunde wussten, stattete er als ägyptische Grabkammer für sein Leben im Jenseits aus. Als begeisterter Skifahrer, Freund und Schüler von Leo Gasperl, dem Weltrekordhalter im Geschwindigkeitsskifahren (136,60 km/h; 1931), schrieb er ein Buch über die Technik des Abfahrtslaufs. 1956 kaufte er sein erstes Flugzeug und ließ sich von dem Schweizer Welt-Champion Albert Ruesch im Kunstflug unterrichten, weil ihn simples Geradeausfliegen langweilte. Als Architekt entwarf er unter anderem Villen-Interieurs, ein Reitclub-Gebäude, das Turiner Teatro Regio sowie Seilbahnstationen und Häuser für die Alpen. Als ›stromlinienförmiger Surrealismus‹ ließe sich der Stil bezeichnen, in welchem er Interieurs und Möbel gestaltete, für die Design-Sammler heute Höchstpreise zahlen. In seinem Roman ›Vita di Oberon‹ (›Das Leben des Oberon‹) lieferte er eine verschlüsselte Vorschau auf sein Leben als Künstler und Tatmensch, er verfasste zahlreiche Schriften zur Architektur, erhob die Fotografie essayistisch zur Kunst, liebte Technik, Funktionalität und Ästhetik gleichermaßen und ließ sich von der Antike ebenso inspirieren wie von der barocken Architektur Turins, vom Jugendstil, dem Surrealismus oder von Erich Mendelsohns expressionistisch-organischer Baukunst. Und nicht zuletzt übten auf ihn weibliche Sensitivität und Körperlichkeit stets eine besondere Faszination aus.
Carlo Mollino erscheint uns nicht allein als Universalkünstler, vielmehr schien er verschiedene Leben geführt zu haben, um all seinen unterschiedlichen Ambitionen, Interessen, Neigungen und Obsessionen nachkommen zu können.
Geboren 1905 als Sohn einer wohlhabenden Turiner Baumeisterfamilie, studierte er Kunstgeschichte und Architektur, um später im Studio seines Vaters als Architekt zu arbeiten. Architekt blieb er Zeit seines Lebens, berühmt sind heute aber vor allem seine Möbel, die er für seine Innenausstattungen entwarf und in stets höchster handwerklicher Qualität anfertigen ließ. Seine finanzielle Unabhängigkeit gestattete ihm, anstatt Serienprodukte zu entwerfen beziehungsweise einzusetzen, stets ›in situ‹ und zumeist mit Unikaten zu arbeiten, so wie er auch seine im Geist des Gesamtkunstwerks konzipierten Projekte bis ins kleinste Detail selbst entwickelte und ihre Ausführung persönlich beaufsichtigte.
Dazu zählen die Casa Miller (1936) und die Casa Devalle (1939/40) mit ihrem durch Spiegel- und Glaswände verstärkt inszeniertem Zusammenspiel von ›antiken‹ und hypermodernen Formensprachen, von realen und virtuellen Räumen ebenso wie zum Beispiel der grandiose, mit Fliesen und exzentrischen Geländern ausgekleidete Lutrario-Tanzpalast (1959/60) oder der Umbau des Teatro Regio (1965 bis 1973) in Turin, dessen roten Zuschauerraum Mollino als ›Mischung aus Ei und Auster‹ bezeichnete. Für die Liftstation Salice d’Ulzio in den piemontesischen Alpen vereinte Mollino moderne Elemente wie plastisch ausgebildete Betonstützen und Stahlunterzüge des Dachs mit der hölzernen Architektur der regionalen Tradition, während seine zehngeschossige Casa del Sole (1947 bis 1954) am Fuße des Matterhorns wie eine Hommage an Le Corbusiers Unité d’Habitation ihr dörflich-alpines Ambiente hochhausartig überragte.
Carlo Mollino war beseelt von einem für den Menschen und nach dessen Bedürfnissen gestalteten Lebensraum, der vom Sitzmöbel bis zum Wohngebäude eine Einheit von innen und außen, von Mensch, Architektur und Design herstellen sollte. So vertrat Mollino keinen rein funktionalistisch geprägten Formalismus, wie ihn in Italien die Vertreter des Razionalismo predigten, sondern eine dem Organischen angenäherte und das menschliche Wesen ins Zentrum rückende Gestaltung.
Wie Mollino um 1944 an seinen Freund Gio Ponti schrieb, war es ihm gleichzeitig wichtig, sich nicht von allem wissenschaftlich-rationalen Denken abzuwenden, sondern vielmehr dessen für den Menschen positiv nutzbare Möglichkeiten in Erinnerung zu rufen und zu kultivieren.
Diesen ›erhabenen Dialog‹ zwischen Mensch (Subjekt) und Realität (Objekt) schien Mollino durchaus selbst herzustellen, indem er wissenschaftliche und künstlerische Methoden verknüpfte. Seine Art der ›Verwandlung‹ natürlich-organischer Erscheinungen in (ästhetisch anspruchsvolle) Artefakte, die er selbst ›trasformazione estetica‹ nannte, erinnert an Theo van Doesburgs Überlegungen der ›ästhetischen Transfiguration eines Gegenstandes‹: Die Psyche des Künstlers verarbeitet den aufgefangenen Eindruck und bildet ihn um, so dass er im Geiste nicht auf die Weise der Natur, sondern auf die Weise der Kunst erscheint. Zwischen dem sinnlichen Eindruck und dem ästhetischen Erlebnis findet eine Transfiguration statt.
Der geistigen Haltung Mollinos stand seine Obsession für die Formensprache des weiblichen Körpers zur Seite — eine Obsession, der er konkret über die Polaroid-Porträts seiner Akte und Halbakte nachging, welche er zum Großteil in seiner Turiner Villa Zaira und teilweise auch in dem heute Casa Mollino genannten Haus anfertigte. Dort, am Ufer des Po, hat er sich ab 1960 sein von ihm sogenanntes ›Casa del riposo del guerriero‹ (›Haus zur Erholung des Kriegers‹) eingerichtet — ein privates Gesamtkunstwerk, in dem sich Tradition und Moderne in einer Inszenierung vereinen, die uns mannigfaltige Rätsel zur Interpretation der dort instrumentalisierten Symbole und historischen Zitate aufgibt: Das Bett, das an eine ägyptische Totenbarke erinnert, steht auf einem blauen Podest vor Wänden, die mit Leopardenfellen und gerahmten Reproduktionen von Schmetterlingspräparaten verkleidet sind. Dazu gesellen sich deutlich moderne Elemente: ovale Türdurchgänge, Tulip Chairs von Eero Saarinen und einige nach eigenen Entwürfen gefertigte Möbelstücke.
Es wird wohl kein Zufall sein, dass sich im Bücherregal der Wohnung in der Casa Mollino der 1884 erschienene Roman ›À rebours‹ (›Gegen den Strich‹) von Joris-Karl Huysmans befand: ›Vormals, da er noch schöne Frauen zu sich kommen ließ, hatte er ein Boudoir nach seiner Angabe einrichten lassen, wo sich inmitten kleiner geschnitzter Möbel aus hellem japanischen Kampferholz unter einem Zelt von indischem Rosa-Atlas der nackte Körper beim künstlichen Widerschein des bauschigen Stoffes noch zarter färbte‹, erzählt uns Huysmans in diesem Buch über den adeligen Exzentriker Jean Floressas Des Esseintes, welcher sich in ein nach seinen Plänen extravagant ausgestattetes Haus zurückgezogen hatte — und wo er sich fürderhin seinen Liebhabereien widmen sollte wie dem Sammeln bibliophiler Kostbarkeiten, exotischer Pflanzen oder der bildenden Kunst.
Im Gegensatz zu Des Esseintes hat Carlo Mollino sein eigenes — ideales — Refugium nie bewohnt, und es blieb ebenso geheim wie sein ›Teatro Gianduia‹, wie er seine Villa Zaira nannte, sehr wohl aber ließ er dorthin ›schöne Frauen zu sich kommen‹: In den Jahren 1962 bis zu seinem Tode 1973 posierten ihm hier durch Agenten auf der Straße angesprochene Schönheiten des Turiner Nachtlebens. So entstanden seine mehr als 1300 erotischen Polaroid-Porträts. Dabei überließ der Fotograf Carlo Mollino nichts dem Zufall: Sorgfältig inszenierte er seine Settings auf einer zumeist minimalistisch gestalteten Bühne mit blauen Samtvorhängen, hummerfarbenen Teppichen oder schlichten Schilfrohrmatten, während er seine Modelle mit von seinen Reisen von Frankreich bis China mitgebrachten Perücken, Stoffen, Kleidern und Accessoires ausstattete. Auf seinen Polaroids, die er bisweilen retuschierend überarbeitete, verwandeln sich seine blassen, zum Teil enthüllten und zum Teil künstlerisch drapierten Modelle in seltsam leblos anmutende, skulpturale, an antike Statuen erinnernde Geschöpfe. Die strenge Komposition und die ästhetische Inszenierung des weiblichen Körpers lassen Parallelen zwischen Objekt und Körper, Natur und Design, menschlicher und architektonischer Gestalt deutlich werden.
Während die Romanfigur Des Esseintes zusehends ›vom Leben abgenutzt, von dem er nichts mehr erwartete, einem Einsiedler gleich ward, reif für die Einsamkeit‹, war Carlo Mollinos Leben keineswegs auf den Rückzug vor einer sich in Oberflächlichkeiten erschöpfenden Gesellschaft in eine künstliche Welt der eigenen Ideale ausgerichtet. Vielmehr zeigte er sich seiner Nachwelt als ein flamboyanter Nonkonformist, für den Kunst und Leben kein Gegensatz waren, der das Abenteuer der Geschwindigkeit ebenso liebte wie die neuesten technologisch-konstruktiven Errungenschaften, die Bergwelt wie das Theater, die Literatur und Fotografie …
Bereits 1949 hatte der Fotograf und Fotografie-Theoretiker Carlo Mollino unter dem Titel ›Messagio dalla Camera oscura‹ (›Botschaft aus der Dunkelkammer‹) Italiens erste umfassende Geschichte der Fotografie publiziert, ein luzides Essay zugleich über die künstlerische Natur der Fotografie, welches er mit eigenen, an der klassischen Studiofotografie orientierten erotischen Frauenporträts anreicherte — bevor er sich 1960 schließlich dem damals modernsten fotografischen Medium, der Polaroid-Fotografie, zuwandte.
Hatte Mollino seine früheren Schwarz-Weiß-Fotografien in Ausstellungen, Publikationen und Wettbewerben veröffentlicht, so hielt er seine Polaroids den Blicken Dritter verborgen. Nur einige seiner besten Freunde bekamen von diesen Bildern etwas zu Gesicht, indem er gelegentlich eines davon als Glückwunschkarte verschickte. Ansonsten blieb diese stets bei Nacht ausgeführte Tätigkeit Carlo Mollinos seine ganz private, uns bis heute letztlich enigmatische Obsession.
Die Polaroids scheinen daher für jene intime Seite dieses Multitalents, das sich in der Öffentlichkeit gerne als ›Performer‹ produzierte, zu stehen, die ihn womöglich als den Produzenten einer im Stillen und nur für sich geschaffenen Repräsentation in Form eines ›Selbstporträts‹ ausweist.
In den Räumlichkeiten dieser Villa und in den Polaroid-Fotografien, den Geheimnissen seines Lebens, verdichten sich nicht zuletzt die künstlerischen Intentionen Carlo Mollinos. So spiegeln seine Frauenakte nicht nur seine männlich-erotischen Fantasien und inneren Obsessionen wider, sondern weisen auch auf seine geistige und künstlerische Haltung hin. Eine Haltung, wie sie etwa in Carlo Mollinos Leitsatz zum Ausdruck kommt: ›Alles ist erlaubt, solange es fantastisch ist.‹